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0911 - Nachtgestalten

0911 - Nachtgestalten

Titel: 0911 - Nachtgestalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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keine Ahnung, wovon Sie reden, d'accord ?«, hatte Luc zu dem Schnauzbart gesagt. Vorhin, als er die Hose voll gehabt und einfach nur noch fort gewollt hatte. Und was hatte Le Pen noch einmal geantwortet? »Das ändert sich noch. Und wenn es soweit ist, weißt du ja jetzt, wo du mich findest.«
    Ja, das wusste er. Ganz offensichtlich.
    Er hatte keine Ahnung, wer Schnauzbart war und was er wollte. Woher er wusste, was er wusste. Aber war das überhaupt wichtig? Luc wollte, Luc musste sich um Marie kümmern, musste ihr helfen. Dies war seine Chance, ihr zu beweisen, wer Luc Curdin wirklich war. Wer er sein konnte, für sie. Und zu diesem Zweck war ihm jedes Mittel recht.
    »Also, ich warte.« Nicolas hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah ihn herausfordernd an. »Auf den Grund bin ich mal gespannt, der dich um zehn Uhr abends noch mal in die Stadt treiben soll.«
    »Ich muss noch ins Café Petit Prince . Schiffen.« Ohne ein weiteres Wort ging Luc in den Flur, und dann hinaus ins Treppenhaus. Als die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss fiel, glaubte er für einen kurzen, irrealen Moment, seine Mutter selbst durch das zentimeterdicke Metall noch seufzen zu hören.
    ***
    Als er an der Rue Victor Hugo ankam, war das Petit Prince bereits geschlossen. Durch die Fensterscheiben starrte Luc hinein und sah, dass die Stühle im Inneren des menschenleeren Cafés auf den Tischen standen und die Ankunft der morgendlichen Putzkolonne erwarteten. Für einen kurzen, irreal anmutenden Augenblick ertappte sich Luc dabei, wie er in die rechte hintere Raumhälfte schielte - dorthin, wo er die Toiletten wusste. Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass Le Pen auf dem Lokus auf dich wartet , schalt er sich in Gedanken einen Narren. Nicht um diese Zeit.
    Doch wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, hatte er es geglaubt. Irgendwo, tief in sich drin.
    Was nun? Luc wandte sich um und blickte die Straße auf und ab, dann überquerte er sie und betrat zum dritten Mal an diesem Tag den Place Bellecourt. Vor der Statue des Sonnenkönigs sah er dunkle Schemen sitzen, ansonsten hielt sich kein Mensch mehr hier auf. Die Stille, die über dem Platz lag, hatte etwas Unheimliches.
    Ob Etienne noch da war? Ohne zu zögern hielt Luc auf ihren Stammplatz zu und erkannte schon von weitem, dass die Schemen in Wahrheit Natacha und Etienne waren. Beide bewegten sich langsam und fahrig, und als Luc näher kam, erkannte er auch warum: Etienne lag auf dem Rücken, alle viere von sich gestreckt, während sich Natacha über ihn beugte und ihren Mund auf sein Gesicht presste.
    Natacha und Etienne? Luc traute seinen Augen nicht.
    Als sie ihn bemerkte, ließ Natacha von ihrem… Opfer?… ab und seufzte. »Was willst du denn hier, Babybacke?«, fragte sie sichtlich genervt. »Musst du nicht längst Zähne putzen und Heia machen?«
    Luc ignorierte sie und sah zu Etienne, in den langsam wieder Leben kam. »Curdin?«, murmelte der ältere Junge schwerfällig und sah ihn aus blutunterlaufenen Augen an, als sei er geradewegs vom Mond herabgebeamt und so ziemlich das Letzte, das er zu sehen erwartet hatte. Eine Wand aus Alkoholgestank wehte von Etienne herüber.
    »Habt ihr Le Pen gesehen?«, fragte Luc und steckte die Hände in die Hosentaschen, damit niemand seine Fäuste sah. »Ihr wisst schon, den Nazi von heute Nachmittag.«
    »Curdin?«, wiederholte Etienne, dann schloss er die Augen wieder und war binnen Sekunden am Schnarchen.
    »Du entschuldigst uns?«, sagte Natacha knapp, drehte Luc erneut den Rücken zu und beugte sich wieder zu Etiennes Gesicht herunter.
    Auf seltsame Art angewidert, ging Luc weiter. Noch einmal drehte er sich um die eigene Achse, um den ganzen Platz überblicken zu können, dann bog er nach rechts ab und stieg die Treppen zur U-Bahn-Station »Bellecourt« hinunter, der am häufigsten frequentierten Haltestelle im gesamten Liniennetz der Stadt.
    Dort herrschte ebenfalls gähnende Leere, und als endlich ein Zug einfuhr, der ihn zum Bahnhof bringen würde, sah er auch hinter dessen Fenstern keine Menschenseele sitzen. Nach 22 Uhr starb Lyon aus, Frühling oder nicht. Ansichtskartenmotive lebten eben von der Sonne und dem blauen Himmel.
    Luc wählte einen Platz am Fenster, im hinteren Ende des Waggons, von dem aus er in die Nacht und das Dunkel der unterirdischen Tunnel blicken konnte. Neonröhren an der Wagendecke hüllten das Innere des menschenleeren Zuges in grelles Licht und verliehen ihm die Atmosphäre eines Operationssaals.

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