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0911 - Nachtgestalten

0911 - Nachtgestalten

Titel: 0911 - Nachtgestalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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Horizont erstreckten. »Und nicht jedes Wesen, das denkt und atmet, ist an ihre Gepflogenheiten gebunden. Es gibt mehr als das.«
    »Ich verstehe nicht. Was für ein mehr soll das denn sein?«
    Wieder dieses leise Kichern. »Was glaubst du, wie du hier hoch gekommen bist? Was glaubst du, wie ich dich gefunden habe? Warum weiß ich wohl, wie sehr du dich für diese Marie interessierst? Luc Curdin, da draußen wartet eine Familie auf ihren verlorenen Sohn - eine andere Familie, als die, die du kennst. Eine, die besser zu dir passen könnte. Und falls du dieser Sohn bist, hast du dich die längste Zeit um das gesorgt, was Nicolas Curdin oder Etienne Fontaineux von dir denken. Das verspreche ich dir.«
    Luc starrte ihn an, unfähig auch nur einen Ton herauszubringen. Er fühlte sich sprachlos und wie erschlagen. Le Pen streckte abermals die Hand aus und hielt sie ihm hin. »Sollen wir uns jetzt um Marie kümmern?«
    Ohne zu zögern griff Luc zu.
    ***
    Das Kleid stand im Schaufenster von »Fashion World«, einer exquisiten Boutique in der Innenstadt, die so edel aussah, dass Luc kurzzeitig Hemmungen hatte, sie überhaupt zu betreten. Andererseits: Betreten war für das, was er hier machte, wohl auch das falsche Wort.
    Kaum dass er die Hand des Fremden berührt hatte, war die Welt ein weiteres Mal verschwunden, und als Luc wieder mehr als nur Schwärze um sich herum erkennen konnte, hatte er im Inneren der Boutique gestanden. Der geschlossenen Boutique. Das Geschäft lag in einer großen Einkaufspassage, deren Inneres nachts beleuchtet war. Durch die großen Schaufenster an der Frontseite von »Fashion World« fiel daher Licht in den Raum, in dem sich Luc und Le Pen gerade befanden. Luc sah Regale voller Kleidungsstücke, meist für weibliche Kundschaft, sowie in den Ecken kreidebleiche Puppen, welche die neuesten Modetrends präsentierten. Es war totenstill hier drin.
    »Wie… wie machen Sie das?«, fragte der Junge und versuchte das Schwindelgefühl zu unterdrücken, das ihn abermals zu übermannen drohte.
    Le Pen lachte leise und strich sich den Mantel glatt. »Fragen, Fragen. Und welchen Nutzen haben sie? Keinen.« Er schritt zum Schaufenster und legte die Hand auf die Schulter einer der dort stehenden Kleiderpuppen. »Dies ist, zumindest in meinen Augen, eine ziemlich genaue Kopie des Kleides, das deine Marie wegwerfen musste. Und ich glaube, dass du es ihr schenken solltest.«
    Luc trat vor. Vorsichtig lugte er durch die Scheibe nach draußen. Gab es hier nicht einen Nachtwächter, der sie entdecken konnte? Wie sollten sie ihm erklären, dass sie in einem verschlossenen Geschäft standen?
    Dann sah er zu der Puppe. Le Pen hatte recht, das Kleid sah wirklich aus wie Maries. Etwa auf Hüfthöhe war ein Preisschild angebracht, nachdem sich Luc bückte. »250 Euro«, sagte er leise und pfiff anerkennend durch die Zähne. »Ich fürchte, da muss ich passen.«
    Der Mann mit dem gepflegten Schnauzbart sah ihn an, als hätte er gerade erklärt, dass er sich das rechte Bein blau lackieren wolle. »Du meinst…«
    »Dass ich mir das nicht leisten kann. Noch nicht. Ich müsste versuchen, Geld aufzutreiben und…«
    Le Pen spuckte aus. »Wie cool bist du eigentlich?«, fragte er, und seine Stimme hatte für den Moment jegliche Freundlichkeit verloren. »Was ist das - diese Härte, die du vor dir herträgst, wie eine Trophäe? Nur Fassade? Nur ein Spiel? Das Kleid ist umsonst, Luc! Nimm es einfach, nimm es mit. Du musst hier nichts bezahlen, sondern nur eine Entscheidung treffen. Klar?«
    Mit einem Mal musste Luc lachen. Ladendiebstahl? Der Typ konnte ihn binnen eines einzigen Augenblicks durch halb Lyon transportieren, und jetzt hatte er nichts Besseres zu bieten, als einen banalen Beutezug? Das war so… so normal. Nahezu billig. Als er in Le Pens Augen sah, erkannte er, dass der Fremde genau wusste, was gerade durch seinen Kopf ging.
    »Oder du gehst«, sagte Schnauzbart, hob die Hand, und dann hörte Luc ein leises Klacken hinter sich. »Aber auf deine Art. Denn dann habe ich dir heute schon mehr als genug gezeigt.«
    Luc blickte über die Schulter und sah, dass sich die Tür des Ladenlokals geöffnet hatte. Einfach so. »Es ist deine Entscheidung, Kleiner«, wiederholte der Fremde eindringlich. »Bediene dich und komm mit mir, oder geh. Aber dann bleibst du, was du bist.«
    Lucs Gedanken überschlugen sich. Würde Marie wollen, dass er für sie stahl? Hatte er mit dieser Tat, mit ihrem Ergebnis, einen Stein bei ihr im

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