0911 - Nachtgestalten
Dort, wo keine Treppe und keine Luke mehr hinführte. Tauben saßen auf der Brüstung und steckten die Köpfe unter ihre Flügel, kalter Wind wehte durch Lucs Haar, und in der Ferne hörte er den nächtlichen Verkehr auf der »Autobahn der Sonne«, wie die Lyoner die A7 tituliert hatten, die hinunter nach Marseille und zum Mittelmeerstrand führte.
»Was… was ist das hier?«, keuchte er mit zittriger Stimme. »Wie sind wir hierhin gekommen?«
Le Pen kicherte leise, und der Nachtwind fuhr unter seinen Mantel und blähte ihn auf, sodass er für einen kurzen Moment wie ein Superheld mit Cape wirkte. Oder wie jemand mit Flügeln?
»Ist das wichtig?«, fragte der Mann. »Oder ist die Frage, was wir hier wollen, nicht ungemein interessanter?«
»Und was wollen wir hier?« Luc schüttelte den Kopf, als könne er die irreale Situation damit ungeschehen machen. Eben noch hatte er in der U-Bahn gesessen, und nun… Er schluckte und zwang sich, nicht nach unten zu sehen.
»Ah, das hängt ganz von dir ab, n'est pas ? Was möchtest du?«
Verständnislos blickte Luc den Fremden an, der sofort weitersprach. »Na, die meisten Menschen, die ich kenne, würden jetzt von Geld anfangen, von schönen Frauen, Häusern im sonnigen Süden. Aber ich glaube, damit wärst du nicht zufrieden. Ich glaube, dass du anders tickst als die meisten. Andere Ansprüche hast.«
Curdin? Abermals hörte Luc eine Stimme in seinem Kopf und konnte sich nicht erklären, wieso. Es war Etiennes, von vorhin. Erst jetzt fiel ihm auf, wie verwundert der Kerl geklungen hatte. Als wäre Luc das Letzte, das er in dem Moment noch hätte sehen wollen. Oder in jedem anderen.
»Ich verstehe nicht«, sagte Luc zögerlich, doch Le Pen grinste breit und winkte ab.
»Siehst du, Luc, genau das bezweifle ich. Ich glaube, du verstehst mich besser, als du dir selbst zugestehen willst.«
Was willst du denn hier, Babybacke? Musst du nicht längst Zähne putzen und Heia machen?
Ah, der Herr Sohn. Wir hatten uns schon gefragt, ob du nicht lieber auf dem Bellecourt wohnen möchtest.
Luc.
Luc hätte nie gedacht, dass man Erinnerungen hören konnte, doch was sich momentan hinter seiner Stirn abspielte - ohne seine Kontrolle und ohne sein bewusstes Zutun, wohlgemerkt - war genau dies: ein akustischer Gang über den Boulevard der Erinnerungen. Etienne, Natacha, Nicolas, Marie… und schließlich Mamans Seufzen. Immer wieder dieses elende, fürchterliche Seufzen.
Le Pen nickte ihm auffordernd zu. »Na? Carte blanche, Monsieur. Alles ist drin. Was. Möchtest. Du.«
Luc spürte, wie ihm sein Herz bis zum Hals schlug, als er den Mund öffnete. »Weg«, sagte er leise, und der Wind umstrich sein Gesicht, als wolle er das Wort abfangen und es hinab in die Straßen und Häuser der Ansichtskartenidylle tragen, damit es auch alle hörten. »Ich will weg. Irgendwo hin. Nach Paris. Raus aus diesem Kaff. Dorthin, wo es keinen interessiert, wer du bist und aus welchem Umfeld du stammst.«
Und die Beichte begann. Luc wusste nicht, warum er sich derart öffnete, aber er spürte, wie gut es ihm mit jedem neuen Wort tat. Er erzählte von den Momenten in der Clique, in denen er das Gefühl gehabt hatte, sich beweisen zu müssen. Sich dafür zu rechtfertigen, in der Gesellschaft der Älteren zu sein. Und dass er sich trotzdem oft genug, ganz tief innen drin, so fühlte, als nähmen sie ihn nicht für voll, egal wie sehr er sich auch anstrengte. Er erzählte von Mamans Seufzern und Nicolas' missbilligenden Blicken. Von dem Lauern in Vaters Augen und der Bereitschaft, jede sich bietende Gelegenheit zu einem Grundsatzstreit mit dem Sohn zu nutzen.
Und er sprach von Marie Dupont. Von dem Kleid, das sie unter Tränen weggeworfen hatte.
Le Pen sah zufrieden aus. »Gemach, gemach«, sagte er aufmunternd, nachdem Luc geendet hatte. »Wir werden nicht alle diese Sorgen in einem Aufwasch beheben können. Aber eines kann ich dir schon jetzt versprechen: Falls du dich in Lyon allein fühlen solltest, kann es sehr gut sein, dass der Grund dafür ein ganz anderer ist, als du jetzt denkst. Dieses Außenseitergefühl, das du beschreibst… Möglich, dass gar nicht du der Außenseiter bist. Sondern alle anderen.«
»Was?« Luc runzelte die Stirn, verstand kein Wort mehr.
Der Schnauzbart breitete die Arme aus, als wolle er das ganze nachtschlafende Lyon in diese Geste einschließen. »Es gibt… andere Wege als ihre«, sagte er leise und nickte zu den Häusern hinab, die sich unter ihnen fast bis zum
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