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0911 - Nachtgestalten

0911 - Nachtgestalten

Titel: 0911 - Nachtgestalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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und kam damit in Lucs Augen weitaus besser zurecht, als all die Ansichtskarten-Mutanten in ihren Appartements und Reihenhäusern.
    »Ah, der Herr Sohn.« Luc stand noch immer im Flur und hatte seinen Vater gar nicht kommen hören. »Beehrst du uns auch mal wieder, wie aufmerksam.«
    Nicolas Curdin, vierundvierzigjähriger Angestellter der Credit Lyonnais, sah ihn an, als wäre er geradewegs aus der Gosse geklettert. »Wir hatten uns schon gefragt, ob du nicht lieber auf dem Bellecourt wohnen möchtest.« Dabei strich er sich die Krawatte glatt, die er über dem blütenweißen Hemd trug. Seine »Büro-Uniform« nannte er das, wusste Luc, doch Nicolas legte sie auch zu Hause nicht ab. Dafür trägt er sie viel zu gerne , dachte er. Die hat so was Steifes, Förmliches. Passt zu ihm.
    Im Spiegel, der unter der Garderobe hing, sah Luc sich selbst. Die schwarzen, halblangen Haare, die verwaschenen Klamotten, die Buttons und so weiter. Ein weitaus lebendigerer Anblick. »Keine Sorge«, sagte er, ohne seinen Vater eines weiteren Blickes zu würdigen. »Ich bleib nicht lange.«
    »Ach, wo soll's denn noch hingehen um diese Zeit? Vielleicht in die Bibliothek, Hausaufgaben machen? Ins Theater, Kultur genießen? Eh? « Nicolas' Stimme wurde mit jedem neuen Satz höher und lauter. Luc ignorierte ihn und schritt ins Wohnzimmer, das seine Mutter penibelst sauber hielt und mit unzähligen Accessoires so voll gestopft hatte, als wäre es das Schaufenster eines Möbelladens.
    »Zieh dir die Schuhe aus, Cheri«, tönte sie aus der Küche, aus der sie sich schon seit Wochen nicht mehr raustraute, wenn er tagsüber im Hause war. Nicht, weil sie sich vor ihm fürchtete, das wusste Luc. Wäre auch albern und unsinnig gewesen. Sondern, weil sie ihn so nicht sehen wollte. Weil sie das Bild, das in ihrem Kopf von Luc Curdin existierte und aus längst vergangenen Jahren stammte, nicht mit der Wirklichkeit überspeichern wollte. Diese Tatsache schmerzte ihn noch mehr, aber es war ihr Leben, nicht seins. Ihre Entscheidung. Ignorance is bliss , hatte Luc mal in einem Roman gelesen. Ignoranz ist ein Segen. Na, wenn sie unbedingt wollte…
    »Ich warte auf eine Antwort, Lucas«, sagte sein Vater und benutzte wieder diesen Namen, der wohl irgendwo auf seiner Geburtsurkunde stehen musste, unter dem Luc aber noch nie gelebt, noch nie aufgetreten war. Am Fenster, das hinaus auf den Hof ging und auf die Einfahrt, hielt Luc an und schob die Gardine beiseite. Er wollte sehen, ob Marie zu Hause war, und von hier konnte er es erkennen, wenn in ihrer kleinen Wohnung Licht brannte.
    Was er stattdessen sah, überraschte ihn zutiefst.
    Marie Dupont stand im Hof, vorne bei den Mülltonnen. Sie trug einen weiten aschgrauen Pullover und eine Trainingshose, Wohlfühlklamotten. Und sie hielt etwas in der Hand, das wie eine Decke aussah, oder wie ein großes Papierknäuel…
    Nein , dachte Luc plötzlich und erkannte, was er da sah. Es ist ihr Kleid.
    Es war zerrissen gewesen, heute Morgen. Daran erinnerte er sich gut. Und an ihre Hände, die den Mantel zugehalten hatten, damit niemand sah, was man ihr angetan hatte. Die aufgeschürften, zerkratzten Hände. Luc hatte es dennoch gesehen.
    »Kann es sein, dass sie weint?« Nicolas war näher getreten und schaute nun ebenfalls hinaus, wo Marie gerade das Stoffknäuel in die Tonne legte. Ihre Schultern zuckten.
    Hast du mal darüber nachgedacht, wie du ihr imponieren könntest?
    Die Erinnerung an Le Pen, den Schnauzbart, kam so plötzlich, dass Luc innerlich erschrak. Diese seltsame Episode vorhin im Petit Prince…
    Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass ein neues Kleid ihr sehr gefallen würde.
    Marie hatte sich mittlerweile umgedreht. Mit festen Schritten näherte sie sich wieder dem Haus. Sie hielt den Kopf gesenkt, und doch erkannte Luc, wie sie sich Tränen von den Wangen wischte.
    Wer war das, Marie? Sag mir den Namen und ich kümmere mich um das Schwein.
    Nicolas legte die Hand auf die Schulter seines Sohnes und zerrte ihn mit sanfter Bestimmtheit vom Fenster weg. »Komm, das geht uns nichts an.« Luc spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Wie konnte sein Vater so etwas sagen? Klar ging sie das etwas an; das war Marie da draußen, oder etwa nicht? Marie, die so gerne lächelte. Marie, die Springsteen hörte und deren Haare nach Kastanien dufteten, wenn sie gebadet hatte und ihm in weiße Frotteetücher gehüllt die Tür öffnete, weil er geklingelt hatte, um in Mamans Auftrag nach Eiern zu fragen.
    »Ich hab

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