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0911 - Nachtgestalten

0911 - Nachtgestalten

Titel: 0911 - Nachtgestalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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Bei jeder Weiche, die die U-Bahn überquerte, flackerten sie auf.
    In der Ferne arbeiteten Männer an den unterirdischen Gleisen, das konnte Luc durch das Fenster erkennen. Er sah Schatten vor einem aufblitzenden Licht, vermutlich fanden Schweißarbeiten statt. Nachts kam der ÖPNV nahezu zum Erliegen, was Instandhaltungsarbeiten am Gleisnetz natürlich deutlich einfacher machte.
    Doch je näher der Zug der Stelle kam, an der Luc die Arbeiter vermutete, desto unwirklicher schien ihm die Szene, die er dort sah. Stammte dieses flackernde Licht tatsächlich von einem Schweißgerät?
    Als die U-Bahn die Stelle passierte, konnte Luc nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken. Das… das konnte doch nicht sein! Was er für Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe gehalten hatte, waren in Wirklichkeit… Und in ihrer Mitte, das…
    Er sah drei klobige Gestalten in gelben Overalls. Sie trugen Bauhelme auf den Köpfen und schwere Stiefel. Doch Menschen waren sie nicht; höchstens Wesen, die wie Menschen wirken wollten. Hörner wuchsen aus ihren dunklen, faltigen und behaarten Monsterschädeln. Breite, ledrige Flügel wuchsen aus ihren Rücken und in ihren Mündern blitzten Zähne auf, die so weiß und scharf waren, dass allein ihr Anblick tödlich schien. Sie standen um ein kleines Feuer. Nur, dass es gar kein Feuer war, sondern ein Loch im Erdreich, durch das weiß glühende Lava zu sehen war, dampfend und heiß. Und über dem Loch, aufgespannt an einem abenteuerlichen Gestell aus Eisenstangen, Holz und Nägeln, hing ein Mann. Wie ein Spanferkel drehten sie ihn über der Lavaglut.
    Ungläubig starrte Luc aus dem Fenster, zu entsetzt, um sich zu bewegen oder den Blick abzuwenden. Und einer der drei Gestalten - ein breiter, überall behaarter Koloss mit gewundenen, spitzen Hörnern - hob den Arm und winkte ihm freundlich zu!
    Dann war der Zug vorbei und Luc fuhr sich mit einer zitternden Hand über die schweißbedeckte Stirn. Hatte er das gerade wirklich gesehen? Der ganze Spuk hatte nicht mehr als zwei oder drei Sekunden gedauert und war so irreal gewesen, dass sich Luc nicht sicher war. Nicht sicher sein durfte ! Das… das musste ein Trugbild gewesen sein. Natürlich, was auch sonst? Monster, die in Lyoner U-Bahnschächten Menschen grillten - das war der Stoff, aus dem man Gruselgeschichten für kleine Kinder machte, oder? Genau wie diese irrwitzige Phantasie, die ihn heute im Petit Prince überkommen hatte; an der war ja auch nichts dran gewesen.
    Luc begann gerade wieder, sich zu beruhigen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Und diesmal schrie er wirklich.
    Hinter ihm stand Le Pen, die Haare streng gescheitelt, den Schnurrbart ordentlich gepflegt. Er grinste den Jungen an. »Wo zur Hölle kommen Sie her?«, schrie Luc und schämte sich selbst dafür, dass ihn der Kerl so erschrocken hatte. War der Wagen nicht leer gewesen, als er hereingekommen war? »Hier… hier saß doch außer mir niemand. Oder?«
    »Was glaubst du?«, sagte Le Pen so beiläufig und in seinem üblichen Plauderton, als habe Luc nach der Uhrzeit gefragt. Dann streckte er ihm die Hand hin. »Aber die entscheidende Frage ist doch, wo wir zwei jetzt hinwollen. Hast du dir überlegt, was du machen willst?«
    Luc starrte die Hand an, als hätte er noch nie eine gesehen. Sein Herz raste noch immer, und nur mit Mühe bekam er seine Panik nach und nach wieder unter Kontrolle.
    Als keine Antwort kam, zuckte Le Pen mit den Schultern, hielt die Hand aber nach wie vor ausgestreckt. »Auch egal. Aber vielleicht hast du Lust auf einen kleinen Spaziergang. Ich gebe ungern einen Tipp, aber ich würde es dir dringend raten.«
    Luc Curdin sah, wie sich seine eigene rechte Hand hob und um die des Fremden schloss. Und im nächsten Augenblick verschwand die Welt.
    ***
    Die Basilika Notre-Dame de Fourviere war im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert errichtet worden, stand auf einem Hügel, von dem aus sie aus nahezu der ganzen Stadt gesehen werden konnte, und sie war hoch. Verdammt hoch. Luc wurde schwindelig, als er auf einmal die Lichter der Stadt unter sich glitzern sah. Ein erschrockenes Keuchen drang aus seiner Kehle - und dann gaben seine Knie nach.
    »Ruhig, ruhig«, murmelte Le Pen und stützte ihn, bevor er hinab in die Tiefe stürzen konnte. Atemlos und sich krampfhaft an den Arm des Mannes klammernd, blickte Luc sich um, nahm seine Umgebung mit ungläubig geweiteten Augen auf. Sie befanden sich auf dem Glockenturm des Kirchengebäudes, ganz oben auf dem Dach.

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