0919 - Bücher des Grauens
traditionelles Morgengebet - wie immer, wenn er allein unterwegs war. »Du weißt, dass ich nur ein armer Sünder bin, der es nicht verdient, an deiner Tafel zu sitzen. Aber du weißt auch von meinen Anstrengungen, dir gefällig zu sein und dein Wort, deinen Segen unter den Menschen zu verbreiten, deinem Volk.« Er zog seinen dicken Mantel enger zusammen, senkte den Kopf, schloss kurz die Augen und bekreuzigte sich mit der behandschuhten Rechten. »Ich bitte dich an diesem Tag: Wenn es dir gefällt, so lasse mich meine Aufgabe erfüllen und jenen die Kunde deiner Herrlichkeit überbringen, welche ihrer am meisten bedürfen. Doch dein Wille geschehe, Herr. Dein Wille allein.«
Als er wieder aufblickte, sah er, wie auf dem zugeschneiten Weg vor ihm plötzlich zwei Gestalten aus dem Nichts erschienen! Sie waren… Großer Gott, sie waren nackt wie Adam und Eva, als sie der Versucher in Gestalt der Schlange auf die Probe gestellt hatte. Und die Rechte von ihnen schrie mit einem Mal auf, als hätte Luzifer selbst sie in die Feuermeere der Unterwelt geschleudert.
Sie sind zurück! Henris rationaler Verstand machte einen Aussetzer. All die Jahre der Entsagung und aufrichtigen Reue fielen binnen eines einzigen Augenblicks von ihm ab, und der Instinkt übernahm die Kontrolle über sein Handeln. Der Satan hat seine Schergen erneut geschickt, um mich zu sich zu holen!!
»Erlöse mich, Herr!« Verzweifelt und der Panik nahe, brachte der Abt sein Gefährt zum Stehen, starrte den Gestalten entgegen und hob abwehrend die Hände. »Ich bin ein Mann Gottes, des Allmächtiger. Weiche, Versucher! Weiche!«
Die rechte Gestalt beachtete ihn kaum. Sie schrie noch immer und hatte die Arme um ihren weiblichen, höllisch verlockenden Körper geschlungen. »Winter? Chef, von Winter hast du mir nichts gesagt.«
»Weil du sonst nicht mitgemacht hättest«, sagte die andere, dem Aussehen nach ein durchtrainierter Mann mittleren Alters - wenngleich sich Henri von derlei Schein nicht beirren ließ. Er wusste, dass er es mit Dämonenpack zu tun hatte. Rechtschaffene Menschen erschienen nicht au naturel aus dem Nichts.
»Wir mussten ohne Kleidung reisen«, fuhr die linke Gestalt fort. »Du weißt selbst, dass man bei einer Reise mit Merlins Zeitringen alles wieder mit zurücknehmen muss, was man in die Zielzeit mitgebracht hat - inklusive der Kleidung. Und das war mir einfach zu riskant, immerhin löst sich die Welt, wie wir sie kennen, ja unter der Last der Zeitbeben auf! Wer weiß schon, ob wir am Ende unserer Mission noch unsere alte Kleidung besitzen? Ob es die dann überhaupt noch gibt?«
Duchamps verstand kein Wort. Aber das war auch nicht nötig. Die Wege des Teufels sind unergründlich , dachte er überzeugt. Und sie sind nichts, das zu beschreiten ich beabsichtige.
»Vergib mir, Herr!«, schrie der Abt, sprang vom Kutschbock seines Wagens und rannte durch den Schnee auf einen nahe gelegenen Wald zu, in dem er hoffte, sich vor den zwei Schergen des Satans - und dem offensichtlich noch immer schwelenden Groll des Schöpfers - verbergen zu können.
***
Professor Zamorra schnürte seiner Gefährtin das Mieder zu, das sie gemeinsam mit einer Fülle an anderer Kleidung auf dem Karren gefunden hatten, den der seltsame Mönch bei seiner irrationalen Flucht zurückgelassen hatte. »Nett von ihm, uns die Kleider, die wir benötigten, gleich frei Haus zu liefern.«
Nicole schnaubte verächtlich. »Mit dir rede ich nicht mehr. Du lässt mich splitterfasernackt in die Kälte reisen, ohne Vorwarnung. Wie sollen wir jetzt überhaupt nach Mainz kommen?«
»Wie wär's damit?«, fragte Zamorra und sah sich auf dem Karren um. »Als ich Gutenberg begegnete, war es Frühling, von daher habe ich für unsere Reise nicht ohne Grund den Winter gewählt. Wir werden einige Zeit brauchen, um uns von der Loire zur Domstadt am Rhein durchzuschlagen. Dieser Wagen könnte uns dabei nützliche Dienste erweisen.«
»Und deinen Sinn für Moral und Anstand hast du in 2009 vergessen, ja?« Nicole strich sich widerwillig die grob-leinene Kleidung glatt und beäugte sie äußerst kritisch. »Nicht nur, dass wir den armen Geistlichen erschrecken und vergraulen, jetzt klauen wir ihm auch noch sein Hab und Gut?«
Zamorra hob die Schultern und trat vor, um auf dem Kutschbock Platz zu nehmen. »Sieh's doch so, Nici: Wenn unsere Mission misslingt, hat er ohnehin nicht mehr lange was von seinen irdischen Besitztümern. Und als Mann der Kirche wird er dieses Opfer sicher
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