0919 - Bücher des Grauens
ungehörtes Kommando prasselten die Erinnerungen auf ihn ein, als hätten sie während seiner Ohnmacht einfach kurz außerhalb seiner Wahrnehmung darauf gewartet, in sein Hirn zurückkehren zu dürfen. Die Ereignisse im Château, William, Aldebar… und Nicole. Nicole, die von den Kuttenträgern entführt worden war, welche ihnen in der Gasse aufgelauert hatten. Wer waren sie gewesen, und was hatten sie mit ihnen, mit ihr gemacht?
Zamorra wollte sich aufrichten und spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Er stöhnte, senkte den Kopf und stellte erst jetzt fest, dass er mit dicken, groben Stricken an einen Stuhl gefesselt war, der in der Mitte des Raumes stand, gleich neben der modifizierten Spindelpresse, die Gutenberg für seine Arbeit benutzte. Die Zeitringe, die er an den Fingern getragen hatte, waren entfernt worden - seine Rückfahrkarte in die Gegenwart war fort. Außerdem war er allein, und er fühlte sich elend. Der penetrante Geruch, der in dieser Werkstatt hing, trug nicht gerade dazu bei, sein Wohlbefinden zu steigern. Was zum Henker war das?
Ganz ruhig, Junge. Konzentriere dich. Selbstbeherrschung war eine Disziplin, in der sich der Professor gut verstand. Gekonnt zwang er sich dazu, flacher zu atmen, dann besah er sich seine Fesseln. Ob es ihm gelingen würde, einen dieser Knoten zu lös…
»Ihr seid wach, wunderbar.« Aus einer offen stehenden Seitentür hatte Johannes Gensfleisch den Raum betreten. Nun stand er auf der Schwelle und blickte den Gefangenen mit einer Mischung aus Erleichterung und Resignation an, die Zamorra an irgendetwas erinnerte. Nur an was, konnte er beim besten Willen nicht sagen.
»Was soll das, Gensfleisch?«, fuhr er den Druckermeister an. »Seit wann nehmen ehrbare Handwerker wie Ihr an kriminellen Machenschaften teil?«
Gedankenverloren strich sich Gensfleisch über den dichten, langen Vollbart. »Seit langem, zumindest sofern Ihr Herrn Fust Glauben schenken wollt«, antwortete er leise, trat vollends in die Werkstatt und machte sich daran, einzelne Lettern aus einem an die Wand gelehnten Setzkasten auf einen Winkelhaken zu legen. »Was mich persönlich angeht… Nun, wir haben hierzulande eine Redewendung. Ich habe sie sogar schon in Straßburg gehört, als ich noch dort weilte, von daher seid Ihr als Franzose vielleicht auch mit ihr vertraut: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.«
Zamorra glaubte seinen Ohren kaum. »Wollt Ihr mir sagen, dass Ihr Euch verkauft habt? Ihr, ein rechtschaffener Christ? Was hat man Euch versprochen, dass Ihr loszieht, und Passanten auf der Gasse überfallt?«
Nun zuckte der Drucker sichtlich zusammen. Schnell drehte er sich um und sah Zamorra ins Gesicht. »Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen, Monsieur. Verstanden? Mit dem, was Euch und Eurer Begleiterin dort draußen widerfahren ist, habe ich nichts zu tun. Mein Auftrag lautete einfach, Euch von der Straße aufzulesen und hierher in die Werkstatt zu bringen.« Mit einem Blick auf die Stricke um Zamorras Arme und Oberkörper fügte er hinzu: »Und sicherzustellen, dass Ihr auch dort bleibt, bis mein Mäzen zurückkehrt, versteht sich.«
»Und Nicole?«, drängte der Meister des Übersinnlichen weiter. »Was wurde aus Ihr? Habt Ihr gesehen, was man mit Ihr gemacht hat?«
Gensfleisch schüttelte den Kopf. »Als ich dazu kam, ließen die Kuttenträger von Euch ab, griffen sich Eure Begleiterin und verschwanden mit ihr im Labyrinth der engen Gassen.«
»Und Ihr ließt sie ziehen. Ein feiner Edelmann seid Ihr, Gensfleisch. Und so etwas stammt aus einer Patrizierfamilie!«
Der Drucker lachte leise. »Mein Auftrag galt nur Euch, Monsieur. Wie gesagt. Mein… Finanzier hat ausdrücklich darum gebeten, Euch in seiner Nähe zu wissen, als er Euch aus dem Fenster der Werkstatt blickend durch die Gasse kommen sah. Mir schien, als kenne er Euch.«
Das bist doch nicht du, Gutenberg. Zamorra brauchte den Mann, der für die Geschichte der Menschheit von immenser Bedeutung sein würde, nicht anzusehen, um zu wissen, dass er unter einer Art magischem Einfluss stand. Gensfleisch folgte einem Zwang, der ihn reden und Dinge tun ließ, die eigentlich nicht seiner Natur entsprachen. Abermals hatte der Professor das ungute Gefühl, als müsse ihm dieses Verhalten ein Begriff sein, ihn an irgendetwas erinnern. Doch so sehr er sich das Hirn auch zermarterte, er kam nicht darauf.
»Wie heißt der Dämon, dem Ihr zu Diensten seid?«, versuchte er es auf die direkte Tour. »Was hat er Euch versprochen, um Euch
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