092 - Der Herr des Schreckens
überkreuzten Beinen in der Ecke auf dem Boden. Es schien, als nähme er seine Umgebung gar nicht wahr. Sein Geist war bereits am Ziel des Fluges, im verfluchten Kloster der Finsternis beim Herrn des Schreckens.
Nicole Dulac war bereits einen Tag vorher im Kloster der Finsternis angekommen. In hypnotischer Trance war sie mit Taschmosch und dem Lönchen von Paris über Delhi nach Katmandu geflogen. Nicole war von Taschmosch geschminkt und hergerichtet worden und hatte einen falschen Reisepaß erhalten. Von Katmandu gelangte das Mädchen mit ihren beiden Begleitern mit dem Hubschrauber zu der Berghöhle in den Westhängen des Kangschung-Gletschers, der das Kloster der Finsternis enthielt.
Gleich nach der Ankunft wurde Nicole zu drei anderen jungen Frauen in eine Zelle gesperrt. Den Herrn des Schreckens hatte sie noch nicht zu sehen bekommen. Die Nacht verging und ein Teil des nächsten Tages.
Besonders mit einer Mitgefangenen, einer jungen, aus einer vornehmen Familie aus Lhasa stammenden Tibetanerin, hatte Nicole sich angefreundet. Das junge Mädchen war genauso alt wie Nicole, zwanzig Jahre, und sie sprach ein gutes Englisch, so daß sie sich gut mit Nicole verständigen konnte.
Die junge Tibetanerin hieß Sirtana.
Während des Mittagessens begann eine der jungen Frauen in der Zelle zu schluchzen. Sie weigerte sich, auch nur einen Bissen anzurühren, und weinte hysterisch. Nicole und die beiden anderen bemühten sich, sie zu beruhigen.
„Was hat sie?“ fragte Nicole Sirtana.
Ein Schatten flog über das Gesicht der hübschen jungen Tibetanerin.
„Sie sagt, sie will nicht von den dämonischen Ungeheuern aufgefressen werden. Sie kann es nicht mehr ertragen, auf ihr gräßliches Ende warten zu müssen.“
Zum erstenmal sprachen Nicole und Sirtana über das, was ihnen bevorstand. Bisher hatte die junge Tibetanerin es vermieden, dieses Thema zu erwähnen. Sie wußte zwar, wie Nicole aus Paris entführt worden war, und Nicole hatte erfahren, wie Sirtana aus Lhasa verschleppt wurde, aber über das Schicksal, das ihnen allen drohte, hatte Sirtana nicht sprechen wollen.
Sirtana und die andere junge Frau redeten auf Tibetanisch auf die Schluchzende ein, doch diese wollte sich nicht beruhigen.
Die Zellentür wurde aufgeschlossen. Die beiden Wärter standen mit dem Servierwagen vor der Tür, auf den das schmutzige Geschirr geladen werden sollte. Sie tauschten ein paar Bemerkungen über die schluchzende Frau aus, die Nicole nicht verstehen konnte.
Die in Tränen aufgelöste Tibetanerin schrie gellend auf, warf sich auf den Boden und hämmerte mit den Fäusten auf die nackten Steinplatten. Die Wärter ließen das schmutzige Geschirr von den Gefangenen auf den Wagen stellen und schlossen die Zellentür wieder ab.
Sirtana und die andere Tibetanerin betteten die verzweifelt Weinende auf eine der unteren Pritschen.
„Arme Pharwahati“, sagte Sirtana. „Jetzt wird das eintreten, wovor sie sich gefürchtet hat, sie wird abgeholt werden.“
Wenige Minuten später wurde die Tür wieder geöffnet. Der Lönchen und ein gräßliches Geschöpf traten ein. Das Wesen hatte verfilztes, schwarzes Haar, und einen ebensolchen Bart. Es hatte nur ein großes Auge auf der Stirn und es gab keine Nase und keinen Mund, sondern nur ein großes und zwei kleinere Löcher, die sich pfeifend öffneten.
Sonst sah das Wesen aus wie ein Mensch. Seine Hände waren hornig, die Fingernägel überlang. Ein durchdringender Modergestank ging von ihm aus.
„Nein“, schrie Pharwahati. „Nein, nein, nein! Ich will nicht.“
Nicole konnte die Worte nicht verstehen, aber es war offensichtlich, was die entsetzten Schreie und das Widerstreben bedeuteten. Pharwahati wich bis zur Wand zurück. Der Lönchen und der Zyklop packten sie und zerrten sie hinaus. Pharwahatis Schreie drangen nur noch gedämpft durch die dicke Zellentür und verstummten dann vollends.
„Was geschieht mit Pharwahati?“ fragte Nicole Sirtana.
Das junge Mädchen mit dem bodenlangen Rock, der kostbar bestickten Kaftanbluse und dem Stirnschmuck zuckte die Schultern.
„Sie wird geopfert oder bei einer grausigen Zeremonie gemordet“, sagte sie. „Der Herr des Schreckens ist erfinderisch. Ihm fallen immer neue Greuel und Schrecken ein.“
„Und ihr wartet einfach auf euer Ende? Ihr hockt geduldig hier, bis ihr wie die Schafe zur Schlachtbank getrieben werdet?“
„Was sollen wir tun? Wer dem Herrn des Schreckens in die Hände fällt, ist rettungslos
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