092 - Der Herr des Schreckens
nepalesischer Rupien. Dann standen Dulac, Arvois und d’Estienne mit ihren Koffern auf der lehmigen Straße.
Sie folgten dem Nepalesen ins Haus und schleppten das schwere Gepäck die Treppe zum ersten Stock hinauf. Es roch fremdartig wie nach Räucherstäbchen. Der Nepalese, sein Name war Shiri La, öffnete eine Tür.
Ein Mann mit kahlrasiertem Schädel und schwarzem Gewand hockte am Boden, die Arme vor der Brust verschränkt. Aus seinem breiten, schlitzäugigen Gesicht mit den abstehenden Ohren sprachen Selbstsicherheit und abgrundtiefe Bosheit.
Der Nepalese verbeugte sich vor ihm und meldete die Ankunft der erwarteten drei Männer. Der Schwarze Lama hörte zu und scheuchte den Nepalesen dann mit einer knappen Handbewegung weg. Dulac, Arvois und d’Estienne traten in den spartanisch eingerichteten Raum mit den Bastmatten und den fremdartigen, klein und klobig erscheinenden Möbelstücken.
„Professor Dulac, nehme ich an?“ fragte der Schwarze Lama in einem fast akzentfreien Englisch. „Weshalb sind Sie nicht allein gekommen?“
„Das wurde nicht ausdrücklich gefordert“, antwortete Dulac, gleichfalls in Englisch. „Monsieur Arvois ist mein Assistent, und Monsieur d’Estienne ein alter Freund. Er soll meine Tochter Nicole nach Hause geleiten, falls sie hier oder in Tibet ist, was ich annehme.“
„Ihre Tochter befindet sich im Kloster der Finsternis“, antwortete der Schwarze Lama. „Aber sie wird erst nach Hause zurückkehren, wenn Sie zur Zufriedenheit Chandar-Chans gearbeitet haben. Dann können Sie selbst mit ihr nach Frankreich zurückgehen. Ihre beiden Begleiter können Sie gleich wegschicken.“
„Oho, so haben wir nicht gewettet. Wenn der Herr des Schreckens hat, was er will, finde ich mich mitsamt Nicole in einer Bergschlucht wieder, mit zerschmetterten Knochen, oder Dämonen bringen uns um. O nein, erst muß ich wissen, daß Nicole in Sicherheit ist. Sonst rühre ich keinen Finger und teile Chandar-Chan nicht ein Wort über meine Forschungen und wissenschaftlichen Arbeiten mit.“
Der Schwarze Lama wurde unsicher.
„Das geht nicht. Das widerspricht den Anordnungen Chandar-Chans.“
„Das kümmert mich nicht. Entweder, oder.“
„Ich kann das nicht entscheiden“, sagte der Schwarze Lama nach einer Weile des Nachdenkens. „Das müssen Sie mit Chandar-Chan besprechen, Professor.“
„Gut, aber meine beiden Begleiter kommen mit.“
„Auch das kann ich nicht entscheiden.“
„Was können Sie denn überhaupt entscheiden?“ erregte sich der übermüdete, gereizte Dulac. „Vergessen Sie nicht, daß ich für Chandar-Chan ein wichtiger Mann bin. Setzen Sie sich mit ihm in Verbindung und fragen Sie ihn, ganz gleich wie Sie das anstellen.“
Der schwarzgekleidete, kahlköpfige Asiate erhob sich.
„Das werde ich tun.“
Er trat zur Wand und legte ein breites, langes Brett auf den Boden, das an der Wand gelehnt hatte. Es war ein Nagelbrett, die spitzen Nägel waren fingerlang. Der Schwarze Lama entkleidete sich und legte sich mit geschlossenen Augen auf das Nagelbrett. Seine Lippen bewegten sich und formten lautlose Worte.
Plötzlich schwebte er von dem Nagelbrett etwa zehn Zentimeter hoch in die Luft. Der Kriminalkommissar traute seinen Augen nicht.
Nach einigen Minuten senkte sich der Körper des Schwarzen Lama langsam wieder auf die Nägel nieder. Der Mann öffnete die Augen und stand von dem Nagelbrett auf.
„Chandar-Chan ist einverstanden, daß ihr alle kommt“, sagte er. „Nachdem er gesehen hat, daß Sie willens sind, gut für ihn zu arbeiten, will er das Mädchen und Ihre beiden Freunde gehen lassen, Professor Dulac.“
Das war eine dehnbare und zweifelhafte Zusage, aber dem Professor blieb nichts anderes übrig, als sich damit zufriedenzugeben. Die Darbietung des Schwarzen Lama hatte den Professor und auch Arvois nicht sonderlich beeindruckt.
„Wann brechen wir auf zu Chandar-Chan, und wie kommen wir hin?“ fragte Robert Arvois den Schwarzen Lama.
„Morgen früh vor Einbruch der Dämmerung geht es los. Bis dahin könnt ihr euch ausruhen. Hier im Haus steht euch ein Zimmer zur Verfügung. Ihr dürft das Haus aber nicht verlassen.“
Der Schwarze Lama führte Professor Dulac, Robert Arvois und Kommissar d’Estienne in ein geräumiges, einfach möbliertes Zimmer. Dort ließ er die drei Männer allein. Durch das Fenster konnte man auf einen Pagodentempel sehen, der etwas tiefer am Berghang lag.
Am Horizont ragten übereinander getürmte Gebirgsmassive bis in
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