092 - Piraten im Nordmeer
sich schon auf ein lustiges Gemetzel an Land gefreut.
Kapitän Boronin, der noch immer mit ängstlichem Gesichtsausdruck auf der Brücke stand, war ebenfalls nicht ausersehen worden, an der Exkursion teilzunehmen.
Wahrscheinlich war er dem Kapitän der Sturmbraut als Navigator zu wichtig, um ihn einer Gefahr auszusetzen: Wenn das Schiff je wieder aus diesem Kessel herauskommen wollte, brauchte er einen Mann, der jedes örtliche Riff kannte.
***
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hatten auf Tromsö etwa 55.000 Menschen gelebt. Sie hatten sich vornehmlich mit dem Fang, der Verarbeitung und dem Eindosen von Fisch über Wasser gehalten.
Im 20. Jahrhundert, in einer Periode, die als »Zweiter Weltkrieg« in die Geschichtsbücher eingegangen war, hatte sich sogar zeitweilig die norwegische Regierung nach Tromsö abgesetzt. Die erste Ortschaft war 1250 entstanden. Auch die
»Hauptstadt« der Insel hatte Tromsö geheißen, doch heute wusste niemand mehr etwas davon. Keiner der hier ansässigen Menschen hatte je Worte wie »zwanzigstes Jahrhundert«, »Geschichtsbuch« oder »norwegische Regierung« hört. Die Hauptstadt war längst den Weg alles Vergänglichen gegangen, wie auch die Fisch verarbeitende Industrie. Allerdings fuhren die Tromsoyer auch heute noch mit ihren Booten hinaus, um mehr oder weniger mutierte Fische oder Schalentiere zu fangen.
Swafel der Dritte – benannt nach dem prominenten Haudegen Swafel dem Ersten und dem weniger erfolgreichen Landwirt Swafel dem Zweiten – war ein typischer Tromsoyer seiner Zeit: hager, hoch aufgeschossen, von der Sonne stark gebräunt, von sehniger Gestalt, trinkfest, arbeitsscheu und von geringem Intellekt. Sein tägliches Fischbrötchen verdiente er sich als Küstenspäher im Dienst einer Majestät, die sich nicht gerade unbescheiden »König von Tromsoy« nannte, obwohl sie nur über dreitausend Fischer, Schweinehirten, Schnapsbrenner und Soldaten gebot. Letztere verbrachten ihr Tagwerk damit, den arbeitenden Teil der Bevölkerung zu drangsalieren und nach Möglichkeit um die verzehr- und trinkbaren Resultate ihrer Tätigkeit zu bringen.
Swafel war jedoch kein böser, sondern nur ein fauler Mensch.
Er hatte sich den Beruf des Küstenspähers ausgesucht, weil er am liebsten aufs blaue Nordmeer hinaus schaute und von den Heldentaten träumte, die er begehen würde, wenn Seine Majestät ihn nur ließe.
Wenn er dem Rauschen der Brandung lauschte, sah er sich stets als kühnen Kapitän auf einem Langboot, der unbekannte Gestade entdeckte, von braunen Mädchen mit Girlanden bekränzt wurde, die Schätze versunkener Städte hob und den Flybusta, die mehr oder weniger regelmäßig die heimatliche Küste heimsuchten, eine Lektion zu erteilen.
Leider war Swafel von niedriger Geburt, verstand nichts von Navigation und tat sich schwer beim Schwingen eines Schwertes. Deswegen würde Seine Majestät ihm nie und nimmer das Kommando über ein Langboot anvertrauen.
Es sei denn, dachte Swafel an diesem besonders schönen Abend, als er wieder mal an der Nordküste Tromsoys zwischen den Felsen lag und sich an seinen Fantasien berauschte, ich bin unserem König auf eine Weise dienlich, die sich für das Volk und ihn auszahlt. – Vor allen Dingen für ihn…
Er hatte den Gedanken kaum zu Ende geführt, als er am Horizont die Masten eines Schiffes erblickte. Swafel sprang wie der Blitz auf und hob das bronzene Fernrohr an die Augen, das zur Ausrüstung jedes Küstenspähers gehörte.
Donnerwetter!, dachte er, als er der beiden Buge eines Großkatamarans ansichtig wurde. Diese bedrohlich aussehenden Totenschädel kannte er doch. War das Schiff nicht erst vor wenigen Monden… ?
Schon erinnerte er sich an den schrecklichen Abend, als er mitten in der Nacht vom Geschrei einer brandschatzenden Horde aufgewacht war und aus dem Fenster des elterlichen Schweinekobens geschaut hatte: Flybusta von dem Meera-Inseln waren mit brennenden Fackeln und Schwertern durch das Gehöft seines Vaters getobt und hatten seine Sauen, Eber und Ferkel geraubt. Sein Vater, ein großartiger Schweinezüchter, doch lausiger Fechter, hatte sich der barbarischen Horde mit der Mistgabel entgegen gestellt.
Seitdem war Swafel vaterlos, denn der Hof – beziehungsweise was von ihm übrig geblieben war –, war an seinen älteren Bruder gefallen.
Wie sich später herausgestellt hatte, war auch das Gut Seiner Majestät nicht ungeschoren geblieben: Die Flybusta hatten einiges von Wert gestohlen, die Mägde des Herrschers
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