0927 - Nacht über GALAHAD
hatte - und sie geschah schnell. Binnen eines einzigen, furchtbaren Augenblicks verlor das Ungeheuer noch den letzten Rest menschlicher Züge. Seine Konturen verschwammen, seine Ränder verwischten. Als wäre es ein mit Wasser gefüllter Ballon, in dessen Innerem plötzlich ein Sprengsatz gezündet worden war. Mit einem lauten Platschen… verflüssigte sich das Wesen! Kalte, zähflüssige Brühe prasselte auf Evan hinab, durchsetzt mit Hautfetzen, Nägeln, halb transformierten Organresten… Etwas Glitschiges, Weiches rutschte seine Wange hinab und ins Wasser, ein Stück Großhirn fiel in sein linkes Ohr. Die ganze Welt roch nach Moder, nach Verwesung.
Dann war nur noch die Kleidung, waren einzig die Seemannshose und der Schurpullover von dem Monster übrig. Es war vorbei.
Evan zitterte - gleichermaßen vor Ekel, Anspannung und Erleichterung. Ohne seine Kontrolle öffnete sich sein Mund, und ein animalischer, brachialer Schrei des Entsetzens brach sich seine Bahn, hallte von den Wänden des im Halbdunkel liegenden Raumes wieder und ließ die Fensterscheiben erbeben.
Ellen!
Er überlegte nicht mehr, reagierte nur noch. Sein Verstand hatte sich längst in die Tiefen seines Bewusstseins verkrochen, eingeigelt in einer Scheinwelt aus Watte und Sonnenblümchen. Nun regierte allein der Instinkt. Evan zerrte sich die Kleider des widerwärtigen Wesens vom Leib, kämpfte sich auf die Beine und kroch auf seine Partnerin zu, die noch immer zuckend und röchelnd am Boden lag, gefangen in grausamer, wortloser Agonie. Ellen Glenister sah furchtbar aus, blass und nahezu leblos. Mit einer Routine, die ihn selbst überraschte, zerriss er sich sein Uniformhemd, faltete den Stofffetzen zweimal und presste ihn dann auf die klaffende Wunde an Ellens Hals. Ihre Augen wirkten leer, wie die einer Toten.
»Halt durch, Mädchen«, flüsterte er. »Sie kommen. Halt durch.«
Atmete sie noch? Evan beugte sich vor, hielt das Ohr an ihren Mund, ihre Nase.
Im gleichen Moment - fast so, als habe sie nur darauf gewartet - blinzelte Ellen zweimal. Dann riss sie den Mund weit auf und biss ihrem Kollegen das Ohr ab.
Zwischenspiel 1 - Boldaan: Lost in Translation
Hölle
»Zwirn, Arsch und Himmel!« Boldaan hob die Klauen in die von einem angenehm intensiven Schwefelduft geschwängerte Luft. Wie immer, wenn er fluchte - und er fluchte leidenschaftlich gern -, stellte er den in seinen Augen kräftigsten Begriff der Redewendung ans Ende seines Ausrufs. So war etwa aus dem menschlichen »Jesus, Maria und Joseph« in seinem Mund bereits »Zimmermann, Weibsstück und Balg« geworden.
»Wie meinen?« Der dämonische Türsteher hob eine wulstige Braue und blickte ihn über den Rand seines Knochenpultes an. Der Körper des gut zwei Meter hohen Wesens bestand aus etwas, das wie geschmolzene und allmählich erkaltende Lava wirkte. Statt einer Haut besaß es eine schroffe, krustige Hülle, die tiefschwarz gehalten war und durch die sich, einem Geäst aus Adern gleich, viele winzige und rot glühende… Bäche zogen. Die Hitze, die der Türsteher verströmte, war geradezu unerträglich, wenngleich Boldaan den strengen Schwefelgeruch geradezu genoss, der von dem Koloss ausging.
»Ich meine«, echauffierte sich der alte Archivar, »dass du deinen Posten hier ganz schön wichtig nimmst, richtig?« Er zog eine Grimasse, die den Gesichtsausdruck des Türstehers imitieren sollte, und äffte dessen grollend-trägen Tonfall nach. »Stygia will dich nicht sehen. Stygia will niemanden sehen. Stygia will am Liebsten, dass ihr euch alle kommentarlos in die Schwefelseen von Mynzkylt stürzt und nie mehr wiederkommt.«
Das leise Knurren, das aus der Kehle des Lavadämons drang, ließ Boldaan innehalten.
»So ist es doch, oder?«, fuhr er deutlich leiser und mit seiner eigenen Stimme fort. Dass er dabei auch Schutz suchend den Kopf einzog, war ein Reflex, für den er sich innerlich hasste. »Du stehst hier, als wärst du der Chef vom Dienst, und lässt einfach alles an dir abprallen.«
»Ich stehe hier«, sagte der Dämon so ruhig und beherrscht, dass es Boldaan Angst und Bange wurde, »weil unser aller Ministerpräsidentin mich genau damit beauftragt hat. Die Sorge um das Wohl und Wehe der Hölle ist nichts, was man mal eben so nebenbei erledigen kann, klar? Wenn Stygia Ruhe zum Arbeiten braucht, bekommt sie Ruhe zum Arbeiten.«
Mit diesen Worten griff der Türsteher unter sein Knochenpult und zog ein Klemmbrett hervor, auf das er schwungvoll etwas zu zeichnen
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