093 - Neun Leben
Decke gestapelt. In den Räumen, die dahinter gebaut wurden, sollten neue Quartiere für die Palastwachen und die Gäste entstehen. Eigentlich hatte man den Arbeitern befohlen, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zu arbeiten, aber es war niemand zu sehen. Nur zwei Soldaten standen in einem Türeingang. Einer zog den Ärmel seiner Uniform hoch, als sie und Maddrax vorbei gingen. Beide präsentierten ihre Speere und nahmen Haltung an.
»Ich werde sein, wo Ihr seid«, fuhr Miouu fort. »Egal, wo Ihr hingeht, egal, was Ihr macht, ich bin dort. Ich werde Euch in einer Art und Weise sehen wie niemand sonst, wenn Ihr wach seid oder im Schlaf, wenn -«
Maddrax blieb stehen. »Der Job ist bereits vergeben. Die Frau, die ihn ausfüllt, heißt Aruula, und sie und ich werden es gemeinsam schon schaffen, mich am Leben zu erhalten. In der Öffentlichkeit kannst du gerne meine Leibwächterin spielen, aber wenn wir allein sind, lässt du mich in Ruhe, okay? Die Dinge sind schon kompliziert genug ohne dich.«
Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach, aber der Ärger und die Überlegenheit in seiner Stimme brachten eine Wut hervor, die sie sprachlos machte. Maddrax ging weiter, an verschiedenen Türöffnungen vorbei, durch die Sonnenlicht und lange Schatten in den Gang fielen.
»Das«, schrie Miouu ihm schließlich nach, als sie ihre Stimme wiederfand, »dachte Jenny auch, und du weißt ja, wie gut sie zurechtgekommen ist!«
Er winkte ab, ohne sich umzudrehen, und verschwand hinter einer Biegung. Am liebsten hätte sie einen der Ziegelsteine hinter ihm her geworfen, beherrschte sich jedoch. Sie hatte sich für diese Aufgabe beworben, um Menschen zu schützen, nicht um sie mit Gegenständen zu bewerfen.
Maddrax schien nicht zu begreifen, in welcher Gefahr er schwebte. Miouu dachte an Meister Johaan, der einmal zu ihr gesagt hatte, Menschen erlangten im Alter Weisheit. Maddrax musste doppelt so alt wie sie sein. Warum verstand er dann so wenig?
Miouu lehnte sich an eine Wand und ignorierte den halbleeren Eimer mit Frekkeuscherdung, der auf dem Boden stand.
Vielleicht musste sie Maddrax hur ein wenig Zeit geben. Er hatte einen langen, anstrengenden Tag hinter sich, und die Müdigkeit in seinen Augen war ihr nicht entgangen. Nach etwas Schlaf würde für ihn die Welt sicher anders aussehen.
Sie löste sich von der Wand, als eine Windböe, die durch die Türöffnung in den Gang pfiff, den Gestank des Dungs zu ihr trug. Es war ein scharfer und bitterer Geruch. Im Sommer, wenn die Maurer neue Häuser errichteten, roch die ganze Stadt danach.
Miouu stutzte. Man benutzte den Dung, um Wände zu verputzen, aber das ging nur, wenn er noch frisch und feucht war. Trotzdem stand hier ein Eimer ungenutzt herum. Wo waren die Maurer, die damit arbeiten sollten, wo die Lehrlinge, die Ziegel stapelten und von ihren Meistern lernten? Sie dachte an die beiden Soldaten. Einer von ihnen hatte einen viel zu langen Uniformärmel hochgezogen, bevor er Haltung annahm.
Wie war das möglich, wenn die Uniformen der Palastwachen maßgeschneidert wurden, damit sie einen möglichst guten Eindruck machten?
Etwas stimmte nicht. Miouu fühlte es mit jedem vergehenden Augenblick stärker. Sie sah in den halb gemauerten Raum hinter der Türöffnung, dorthin, wo eben noch die Soldaten gestanden hatten.
Sie waren verschwunden. Nur die Ziegel waren zu sehen, die Bäume jenseits der Palastumzäunung - und die Leichen zweier Arbeiter, die mit durchgeschnittenen Kehlen neben einigen Brettern lagen.
Miouu zog ihr Schwert und begann zu laufen.
***
Verträge wurden nicht in Audienzsälen im Beisein von Königen geschlossen, sondern in den Hinterräumen dunkler Tavernen, während auf der anderen Seite der Tür das Volk grölte, feierte und prügelte. Zumindest wurden Verträge so geschlossen, wenn man Siimn hieß und Abgesandter des Stammesfürsten von Pootsdam war.
Er hatte die Taverne Zum trunkenen Kepir für das Treffen gewählt. Sie war heruntergekommen und seit der Verhaftung ihres Besitzers wieder gut besucht. Man hatte Siimn erzählt, der Wirt habe seinen Gästen öfter einmal die Nase abgeschnitten.
Jetzt stand seine Frau hinter der Theke und verkaufte mehr Bier als je zuvor. Sie hatte Siimn alles darüber erzählt, während er wartete. Sie hatte ihm auch erzählt, wann sie die Taverne schloss und wohin er kommen musste, wenn er sie dann besuchen wollte. Sein Ruf hatte sich wohl herumgesprochen. Er hatte sich noch nicht entschieden, ob er die Einladung
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