0930 - Das Stigma
Killers war verdammt tief.«
»Wenn du es so siehst, kann ich es dir nicht verbieten.«
»Siehst du es denn anders?«
»Ja!« Abrupt drehte sie den Kopf und starrte mich an. »Ich sehe es anders, ich muß es auch anders sehen, denn ich kann den Tod meiner Eltern nicht vergessen. Sie sind gestorben, obwohl sie auf die Kraft ihres Schutzengels vertraut haben, und das nicht ohne Grund, denn sie haben mit ihm in Kontakt gestanden. Aber jetzt sind sie tot, und es ist niemand da, der sie zurückholt. Der Engel hat mir die Möglichkeit gegeben, Gutes zu tun, aber er schaffte es nicht, mir meine Eltern zurückzugeben, und das kann ich ihm nicht verzeihen.«
Ich hob die Schultern. »Es ist ein Problem, mit dem du fertig werden mußt. Mich interessiert dabei etwas anderes, wie du dir sicherlich vorstellen kannst.«
»Noch nicht.«
»Es geht um den Engel. Und es geht darum, wie du es geschafft hast, mit ihm in Kontakt zu treten.«
Sie schwieg. Als ich mit einer Antwort rechnete, gab sie mir diese trotzdem nicht, denn sie schwang sich aus dem Bett und ging barfuß auf die Kanne mit dem Wasser zu, die neben einer Schüssel stand.
Ich verfolgte sie mit den Blicken. Ein knapper Slip umschmiegte die doch etwas kräftigen Schenkel, was zu sehen war, als sie sich bückte und der Saum ihres kurzen Oberteils in die Höhe rutschte.
Sie kippte Wasser in die Schüssel und kühlte damit ihr Gesicht. Durch diese Verzögerung erhielt sie Zeit, über eine Antwort nachzudenken. Mit einem hellen Handtuch trocknete sie ihr Gesicht ab und kehrte wieder zurück zum Bett, auf dem sie im Schneidersitz ihren Platz einnahm. An den Haarspitzen schimmerten noch einige Wassertropfen wie durchsichtige Perlen.
»Ich warte noch immer auf eine Antwort, Marcia.«
»Das weiß ich, und ich habe erst nachdenken müssen.« Sie strich einige Haare zurück. »Ja, ich wußte, daß ich allein auf der Welt stand, als meine Eltern gestorben waren. Aber ich wußte auch, daß ich Kontakt mit dem Schutzengel bekommen mußte. Ich lebte bei einer Tante hier im Nebenhaus. Dieses hier blieb leer, aber ich kehrte immer wieder darin zurück. Ich kapselte mich auch von den anderen ab. Dieses Haus zog mich viel mehr an. Das Totenhaus, in dem es ein Geheimnis geben mußte.«
»Durch das deine Eltern Kontakt mit ihrem Schutzengel hatten aufnehmen können.«
Sie nickte einige Male. »Ja, das ist wahr. Du hast es richtig erkannt, und ich ließ nicht locker. Ich forschte. Ich lernte zu meditieren. Ich bin das Kind meiner Eltern, die etwas Unwahrscheinliches und auch Einmaliges geschafft hatten, und ich ging einfach davon aus, daß auch mir so etwas gelingen konnte, denn einiges habe ich doch von meinen Eltern geerbt.«
»Das glaube ich auch.«
»Es dauerte lange, John, sehr lange, bis ich etwas herausfand. Ich wußte, welches Geheimnis dieses Haus barg und wie meine Eltern den Kontakt mit ihrem Schutzengel hatten aufnehmen können.«
»Durch den Spiegel!« Marcia Morana schaute mich starr an. »Ja, du hast recht. Es geschah durch den Spiegel.«
»Wunderbar, den haben wir ja hier. Und ich habe dich in diesem Spiegel gesehen.«
Marcia atmete durch die Nase. Sie ballte die Hände zu Fäusten, räusperte sich und suchte nach einer Antwort. »Für meine Eltern muß der Spiegel etwas Wunderbares gewesen sein. Sie konnten ihn beherrschen. Wie das geschah, weiß ich nicht, aber ich habe lange Zeit davorgesessen, viel nachgedacht, viel meditiert, aber auch viel geweint, denn zu einer schnellen Lösung reichte es nicht.«
»Er ist so etwas wie ein Tor, nicht wahr?«
»Das glaube ich auch.«
»Das Tor zu den Engeln?«
»Zu ihm!« flüsterte sie. »Er kam also?«
»Ja, John, er zeigte sich mir. Er muß wohl in seiner Welt bemerkt haben, wie sehr ich litt. Er zeigte Erbarmen. Ich sah ihn eines Nachts hier im Spiegel erscheinen.«
»Was tatest du dann?«
»Willst du es genau wissen?«
»Bitte.«
»Nun gut«, sagte sie und faltete die Hände wie zum Gebet. »Es ging danach alles relativ leicht…« Sie schloß halb die Augen, fing an zu sprechen und legte es mir so klar und deutlich dar, daß ich mir jede Einzelheit vorstellen konnte…
***
Marcias Erzählungen: Warum ist es an diesem Tag denn wieder so schlimm gewesen? So bedrückend, so eng? Ich habe doch nichts getan. Ich habe mich nur von den anderen entfernt und bin zurück in das Haus meiner Eltern gegangen, wo ich vor dem Spiegel Platz nahm.
Ich weiß jetzt ganz genau, daß er damit zu tun hat. Die Eltern haben
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