0930 - Das Stigma
weiter.«
»Sie brauchen keine Furcht zu haben.« Ich bewegte den Kopf und schaute an der grau wirkenden Hauswand hoch. »Wohnen Sie allein hier?«
»Nein, zusammen mit drei Familien.«
»Ohne Männer?«
»Im Moment schon.«
»Gut.« Ich reichte ihr die Hand. »Versuchen Sie, ein paar Stunden zu schlafen, es lohnt sich immer.«
»Danke, gute Nacht.« Alexa Tardi drehte sich um, drückte die Tür auf, die nicht abgeschlossen war, und verschwand geduckt durch den Spalt.
Auch als sie die Tür von innen her wieder zudrückte, schaute sie nicht mehr zurück.
Ich war allein, blieb allein und ging auch allein dorthin, wo ich wohnte.
Der Weg stieg steil an. Ich bewunderte die älteren Menschen, die ihn tagtäglich gehen mußten, aber das war auch letztendlich mehr eine Gewohnheit.
Der unterschiedlich hohe und harte Stein drückte gegen meine Fußsohlen. Ein bequemes Gehen war dies nicht unbedingt. Manche Oberflächen waren einfach zu glatt und deshalb auch rutschig geworden.
Vor der Tür schaute ich zurück.
Da das Haus sehr hoch lag, hatte der Betrachter einen fantastischen Panoramablick über die Berge, die in einer majestätischen Ruhe lagen.
Ich dachte daran, daß Marcia verschwunden war, wobei ich mich fragte, ob sie noch immer im Spiegel steckte oder ob man sie freigelassen hatte. Ihr Gesicht mit dem blutigen Kreuz wollte mir nicht aus dem Sinn.
Ich hatte darüber nachgegrübelt und fragte mich, aus welchem Grund es wohl entstanden war. Das erinnerte mich an ein böses Omen, an ein Mal, ein Zeichen und gefährliches Stigma.
Auch an Rache!
Gerade dieser letzte Gedanke wollte mir nicht aus dem Kopf. Es konnte durchaus sein, daß diese Person etwas falsch gemacht hatte und es möglicherweise besser für sie gewesen wäre, nicht mehr in den Heimatort zurückzukehren. Aber sie hatte es gewollt, sie hatte mir von diesem Engel erzählt und mich neugierig gemacht. Außerdem war sie meine Lebensretterin, und ich hatte mich ihr gegenüber irgendwie verpflichtet gefühlt. Deshalb war ich auch, ohne zu zögern, mitgefahren.
Ich betrat das Haus.
Stille umfing mich, als ich mich der Treppe näherte.
Mittlerweile kannte ich mich so gut aus, daß ich mich auch in der Dunkelheit orientieren konnte und dabei keine Lampe brauchte. Vor der ersten Stufe blieb ich stehen und legte die Hand auf das kalte Eisengeländer, dann stieg ich die Treppe hoch.
Ich hatte mein Zimmer in der zweiten Etage, aber dort wollte ich nicht hin, denn ich mußte mit Marcia reden, deshalb suchte ich sie. Zuletzt hatte ich ihr verändertes Gesicht im Spiegel gesehen.
Irgendwo hatte ich auch die Hoffnung, daß sie sich mir normal zeigte.
Vor der Tür blieb ich für einen Augenblick stehen. Auch ein Lauschen oder Horchen brachte nichts, es blieb alles so verdammt ruhig, und nur mein eigenes Atmen war zu hören.
»Marcia…?«
Ich hatte den Namen halblaut ausgesprochen, doch sie antwortete nicht.
Einen zweiten Versuch unternahm ich nicht, sondern drückte mit der flachen Hand die Tür auf.
Das zwielichtige Halbdunkel des Zimmers schluckte mich. Die wenigen Möbel schienen in die Finsternis abgetaucht zu sein, denn sie waren kaum zu erkennen.
Ich ging weiter. Der blanke Stein schabte unter meinen Füßen. Das Fenster sah ich ebenfalls als einen helleren Fleck, und die Decke wirkte wie ein blasser Himmel.
Ich ging auf das Bett zu. Beim Eintreten war es mir nicht aufgefallen, jetzt, wo ich näher an die Liege herantrat, war es schon zu sehen. Das Bett war belegt. Ich trat noch einen Schritt näher, und diese Bewegung war auch zu hören gewesen, denn plötzlich schnellte die Gestalt auf dem Bett hoch und setzte sich hin.
Ich hörte einen leisen Schrei, mehr nicht. Aber die Stimme kannte ich sehr gut.
Sie gehörte Marcia Morana!
***
Ich hatte es mir gewünscht, aber nicht damit gerechnet, sie hier im Bett liegen zu sehen. Jetzt saß sie. Ihre Arme hatte sie halb erhoben und die Hände gegen die Brust gepreßt, als wollte sie ihren wilden Herzschlag damit unterdrücken. Auch in der Dunkelheit waren ihre weit aufgerissenen Augen zu erkennen. Mit sanfter Stimme, um sie nicht zu sehr zu erschrecken, fragte ich: »Darf ich das Licht anknipsen?«
»John? Bist du es, John?«
»Wer sonst?«
»Ja, bitte…«
Der Lichtschalter befand sich neben der Tür an der Wand. Er gehörte noch zu den alten Drehschaltern, die bei jeder Bewegung knackten. Ich lauschte dem mir fremd gewordenen Geräusch und schaute zur Deckenlampe. Es wurde hell im
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