0930 - Das Stigma
durch ihn alles erreichen können, und ich will es ebenfalls.
Mein Gott, ich war froh, allein zu sein, auch wenn sich meine Gedanken nicht auf der positiven Seite bewegten. Aber das sollte sich ändern, ich nahm es mir vor.
Das Zimmer mit dem Spiegel war mir so vertraut geworden, daß mich die anderen Räume und Etagen des Hauses überhaupt nicht interessierten. Nur der Spiegel war wichtig, dieses Tor in die andere Welt, nach draußen hin, hinein in die fremde Welt.
Ich stellte den Korb mit den Lebensmitteln ab, denn ich wußte, daß es eine lange Nacht werden würde. In den nächsten Stunden würde sich alles verändern, dessen war ich mir sicher. Er würde kommen, ich brauchte nur zu warten, und ich würde ihm etwas vorspielen müssen.
In der folgenden halben Stunde bewegte ich mich wie eine normale junge Frau. Ich wusch mich, zog mir frische Kleidung an, dann öffnete ich eine Flasche Wein und goß das Glas fast bis zum Rand mit dem Roten voll. Ich hatte mich dabei auf das Bett gesetzt, schaute in den Spiegel, lächelte ihn an und mir somit selbst zu. So machte ich mir Mut, und meinen Durst löschte ich mit Wein.
Ich aß auch. Der Schafskäse war gut gewürzt, er nahm dem Alkohol die Wirkung. Zwischendurch trank ich klares Wasser, blieb aber auch beim Wein und wartete auf die Dunkelheit, die im Sommer immer sehr spät kommt, wenn der Abend praktisch schon vorbei ist.
Im Dorf herrschte eine trügerische Ruhe, was möglicherweise mit der Wolkendecke zusammenhing, die bleiern über dem Ort lag und die Schwüle festklammerte.
Ich stand am Fenster, schaute über die Dächer und dachte daran, wie fremd ich mich in dem Ort fühlte, der schließlich zu meiner Heimat zählte. Ich war hier geboren, kannte jedes Haus, jeden Stein, und trotzdem war es nicht mehr meine Heimat.
Die Berge kamen mir nicht mehr vor wie Freunde, die mich beschützen wollten. Sie waren zu einer mächtigen Drohung geworden oder zu Mauern und Wänden, die mit aller Macht versuchten, mich aufzuhalten und daran zu hindern, auch nur einen Schritt weiter zu gehen und mich aus dem Haus zu entfernen.
So wie ich konnten sich eigentlich nur Gefangene fühlen, aber ich wollte einfach nicht gefangen sein, sondern mein Ziel erreichen, auch wenn ich mich dadurch aus der Dorfgemeinschaft löste. Aber das war mir egal.
Vor mir stand das Ziel. Ich würde an den Schutzengel herankommen, noch in dieser Nacht.
Ich ging wieder zurück und setzte mich auf die Bettkante. Meine Füße hatten auf dem harten Steinboden einen festen Halt bekommen. Zudem hatte ich das Bett so zurechtgerückt, daß ich direkt in den Spiegel schauen konnte. Dort zeichnete ich mich ab. Jede Bewegung wurde von mir verfolgt, ich wollte selbst den Ausdruck meines Gesichts studieren, denn irgendwie kam ich mir alt vor. Oder gealtert.
Das aber war nicht meine Schuld. Es hatte an den Umständen gelegen, unter denen ich litt.
Sehr leise klang meine Stimme, als ich den Spiegel ansprach und damit auch mich selbst. »Das ist vorbei. Es muß vorbei sein. Ich habe alles versucht. Er wird in dieser Nacht erscheinen, daran glaube ich fest. Und ich werde ihn fragen können, weshalb er versagte. Ich werde mit ihm durch den Ort gehen, ich werde ihm meine Heimat zeigen, die ich meinen Eltern zu verdanken habe, und die mir so brutal entrissen wurde. Der Engel soll sehen und erleben, was er damit angerichtet hat.« Ein starker Strom durchfloß mich, es war eine neue Kraft, wie ich sie kaum bisher gespürt hatte, und ich griff wieder zur Weinflasche, um das Glas erneut bis über die Hälfte zu füllen.
Diesmal trank ich den Wein sehr langsam und auch mit mehr Genuß, denn meine innere Einstellung war eine andere geworden. Ich fühlte mich sehr stark, und als ich mich auf meine Augen im Spiegel konzentrierte, da sah ich auch den Willen darin, es schaffen zu können.
Ich würde mich nicht fertigmachen lassen.
Den Käse hatte ich gegessen. Ich trank auch das Glas leer und fühlte mich gut.
Hinter mir befanden sich die beiden Fenster. Sie standen offen, so daß die etwas kühler gewordene Luft ihren Weg in mein Zimmer finden konnte. Sie streichelte dabei meinen Nacken und fuhr sogar leicht unter meine Haare, was mir guttat.
Der Tag zog sich zurück, und damit war meine Zeit gekommen. Ich stellte das leere Weinglas zur Seite, streckte meine Glieder und konzentrierte mich auf zwei Dinge.
Zum einen auf mich selbst und zum anderen auf den Spiegel, der in einer wunderbaren Distanz vor mir stand und mein
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