0930 - Das Stigma
Bild deutlich zurückwarf. Ich war mit mir zufrieden, sogar ein Lächeln gelang mir, aber es war die letzte menschliche Regung, die ich zeigte, denn nun kam es darauf an, sich auf wichtigere Dinge zu konzentrieren.
Einige Male war mir der Kontakt mit dem Engel gelungen. Er hatte meine gestrigen Schreie gehört und kurz Kontakt zu mir aufgenommen. Leider zu kurz, deshalb brauchte ich diese Trance. Ich wollte mich geistig von der normalen Welt verabschieden und hineintauchen in die andere Ebene, wo er lebte und wo er ein Versprechen abgegeben hatte, das er nicht einhalten konnte.
Ich entspannte mich.
Es war gut, daß ich viel über Meditation gelesen hatte. Diese Bücher waren für mich sehr wertvoll gewesen. So gelang es mir, meine innere Nervosität zu unterdrücken und mich ganz und gar in meine eigene Welt zu versenken.
Dabei hielt ich die Augen immer offen, denn der Spiegel war ungemein wichtig. Er war das Tor in die andere Welt, das sich zwar noch geschlossen zeigte, sich aber durch meine geistigen Kräfte öffnen würde, zumindest hoffte ich das.
Es war still, und es wurde noch stiller.
Zumindest für mich, denn die abendlichen Geräusche aus dem Ort, die mich wegen der offenen Fenster erreichten, wehten einfach an mir vorbei, als wären meine Ohren taub.
Es gab nur mich und ihn, den Spiegel!
Ich starrte ihn an. Er war nicht so besonders blank geputzt. Staub hatte auf ihr ein gewisses Muster hinterlassen, was mich nicht weiter störte, denn noch immer gab er mein Bild zurück. Ich sah mich auf der Bettkante sitzen, aber ich sah nicht mehr. Das übrige Zimmer samt seiner Einrichtung war zurückgedrängt worden, und es gab nur mehr die großen, wichtigen Dinge. So wartete ich.
Meine Gedanken lösten sich, als wollten sie dabei meinen Kopf entleeren. Ich fühlte mich auch anders, viel leichter. Obwohl ich saß, hatte ich den Eindruck, leicht über dem Bett zu schweben oder von hilfreichen Armen gehalten zu werden.
Es war so sonderbar. Ich genoß es.
Ich liebte dieses aus der körperlichen Hülle Hervortreten und meinen inneren Frieden, den ich dabei hatte. Allerdings wartete ich vergeblich auf ein Glücksgefühl, denn die Spannungen auf das Kommende überwogen schon. Ich wollte endlich diesen Engel sehen, der viel versprochen, aber letztendlich auch versagt hatte.
Noch stand nur der Spiegel vor mir. Er veränderte sich nicht. Seine Fläche blieb, aber je länger ich mich auf die konzentrierte, um so stärker kam mir die Veränderung vor. Ich wischte über die Augen, als ich glaubte, eine Bewegung gesehen zu haben.
Kam er?
War es der Beginn?
Mein Hals war trocken geworden. Hätte mich jetzt jemand angesprochen, ich wäre kaum in der Lage gewesen, ihm eine Antwort zu geben. Ich wußte mit einemmal, daß ich dicht davorstand, das Rätsel zu lösen. Diesmal würde mich der Schutzengel nicht im Stich lassen oder es nur auf einen kurzen Kontakt begrenzen.
Er würde kommen.
Noch bewegte sich nur die Fläche. Sie hatte auch ihren Glanz verloren und sah aus, als könnte sie jeden Augenblick auseinanderbrechen.
Aber sie hielt.
Und es bewegte sich etwas auf der Fläche oder im Hintergrund, so genau war es nicht zu erkennen.
Himmel, das war er. Der Engel kam!
Ich konnte meinen Blick nicht mehr lösen, auch wenn ich es versucht hätte. Ich stand unter einer irrsinnigen Spannung, sah mich dicht vor dem Ziel meiner Wünsche und zitterte deswegen. Meine Augen waren weit geöffnet, und ich kam mir vor wie jemand, der auf dem Sprungbrett sitzt und nur darauf wartet, sich im richtigen Moment abstoßen zu können.
In diesem Augenblick wußte ich nicht, was ich eigentlich genau empfand.
War es Furcht? War es vielleicht die Freude darüber, es doch geschafft zu haben?
Beide kamen zusammen, aber es verdichtete sich zu einer schon unerträglichen Spannung, die mich festhielt wie eine Klammer.
Und der Spiegel gab die Antwort auf seine Weise. Er verlor seine eigentliche Daseinsberechtigung und verwandelte sich in ein offenes Tor, das die Gestalt, die aus dem Hintergrund in ihn hineingetreten war, auch wieder freiließ.
Der Schutzengel kam.
Er drückte sich noch weiter, die Fläche geriet dadurch in stärkere Wallungen, und er brauchte sicherlich nur einen letzten Stoß zu geben oder Schritt zu machen, um es zu schaffen.
Diesmal hatte er keinen Kontakt auf geistiger Ebene mit mir aufgenommen. Ich hörte die Botschaft nicht in meinem Kopf. Es war auch besser so, wenn er sich mir zeigte.
Noch einmal wellte sich die
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