0936 - Schattentheater
zerstörend. Ihre Seele, ihren Geist aufgrund seiner enormen Macht zerfetzend…
***
»Madame? Madame! Wir servieren gleich Frühstück! Madame?«
Nicole schreckte hoch und brauchte ein paar Sekunden, um sich zurechtzufinden. Sie starrte die Stewardess verwirrt an. »Ent-entschuldigen Sie.«
Die junge Frau lächelte. »Sie haben etwas unruhig geschlafen, Madame. Bei so langen Flügen ist das nichts Besonderes. Ich habe hier Kaffee, der wird Ihnen sicher guttun.«
Nicole nickte langsam. »Danke.« Sie nahm den heißen Plastikbecher, aus dem es schon verführerisch duftete. Der Kaffee war zwar nicht so stark wie der von Madame Claire, aber immerhin erinnerte der Geschmack an das Gebräu in Château Montagne, in dem ein Teelöffel stehen konnte. Niedergeschlagen nahm sie einen Schluck, der in ihrer Kehle brannte und sie damit endgültig in die Wirklichkeit zurückholte.
Die Wirklichkeit! Ich scheine diese Träume tatsächlich überall hin mitzunehmen. Und immer wiederholen sie sich. Das ist schon kein einfacher Traum mehr, sondern bald eine Vision! Nur diese Landbrücke, die ist neu.
Nicole fragte sich, was es damit auf sich hatte, verbannte aber dann den Gedanken. Sie sah aus dem Fenster, hinter dem es jetzt wieder hell war. Unter ihr lag die asiatische Pazifikküste.
In anderthalb Stunden würden sie landen.
***
»Yoku irasshaimashita!«
Dieser unverständliche Satz war das Einzige, was Nicole in der Eingangshalle des Flughafens Narita lesen konnte - denn im Gegensatz zu denen auf den anderen Schildern war er in lateinischen Buchstaben geschrieben. Eine kleine Comicfigur lachte daneben, hatte die Augen zusammengekniffen und hielt zwei Finger zum Victory-Zeichen erhoben.
Da hat jemand wirklich mitgedacht , dachte sie mit einem Anflug von Spott. Wenigstens kann ich die Buchstaben lesen, wenn ich auch keine blasse Ahnung habe, was es heißen soll. Sie sah sich ein wenig verloren in dem Trubel um und suchte nach einem Ausgang, als sie in unmittelbarer Nähe eine Bewegung wahrnahm.
Ein japanischer Herr hatte sich neben ihr so tief verbeugt, dass sie nur seinen schwarzen, ordentlich mit Gel zurückgekämmten Haarschopf sah.
» Yoku irasshaimashita «, murmelte der Herr und richtete sich wieder auf. Er lächelte Nicole an. Er war in einen dunklen Anzug gekleidet, wirkte korrekt und war - sofern Nicole das schätzen konnte - etwa Anfang fünfzig. Aber es hätten auch zehn Jahre mehr oder weniger sein können. Sein Gesicht erschien freundlich, aber dennoch wie eine japanische Theatermaske, ähnlich dem Shinigami. Nun, das passte, entschied Nicole und sah den Mann vor ihr prüfend an. Immerhin hatte ein japanischer Nô-Schauspieler einen »Antrag auf Beihilfe durch Dämonenschäden« bei Louis Landru gestellt, den Nicole überprüfen sollte.
Der Geschäftsführer der deBlaussec-Stiftung hatte erwähnt, dafür sorgen zu wollen, dass am Flughafen ein Verbindungsmann auf sie warten und ihr weitere Einzelheiten berichten würde, die sie für den Fall wissen musste. »Seien Sie willkommen!«, fuhr der Japaner in einem stark akzentuierten, aber perfekten Französisch fort. »Sie sind Madame Deneuve, nehme ich an. Ich bin Minamoto Masaburo. Ich arbeite hier in Japan für die deBlaussec-Stiftung und für Monsieur Landru.«
Nicole lächelte freundlich und verbeugte sich ebenfalls. » Konichiwa , Minamoto-san!«
Der Gesichtsausdruck des Japaners sah auf einmal weniger maskenhaft aus. Trotzdem konnte Nicole sich eines gewissen Unbehagens nicht erwehren. Sie spürte die Distanz, die von der Höflichkeit aufgebaut wurde. Die Chinesen, die sie kannte, waren ebenso höflich - dabei fiel ihr besonders Fu Long ein -, aber trotzdem schienen deren Freundlichkeit eher von Herzen zu kommen. Nicole nahm sich zusammen, sie konnte doch diesen Herrn hier nicht sekundenlang anstarren! Andere Länder, andere Sitten, sagte sie sich. Minamoto-san bemerkte jedoch offenbar nichts und streckte Nicole seine Hand entgegen. »Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Madame Deneuve. Ihr Japanisch ist hervorragend. Bitte folgen Sie mir, Madame, unser Taxi wartet. Es wird uns sofort zum Kokuritsu Nô-Theater bringen.« Wieder verbeugte sich der Herr etwas mechanisch und bedeutete ihr mit einer Geste die Richtung.
Ein wenig zögernd folgte Nicole der freundlich ausgestreckten Hand des Herrn.
War das nun nur die übliche japanische, aber von Europäern oft als distanziert empfundene Höflichkeit Fremden gegenüber, die ihr hier entgegenschlug?
Oder
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