0942 - Die blutige Lucy
Der Wind riß ihr die Atemfahne vom Mund.
Sie nahm das Rauschen des Wassers intensiver wahr und auch die lauten Geräusche, die entstanden, wenn die Wellen weiter unter ihr gebrochen wurden.
Es kam einer wilden Musik gleich. Eine Mischung aus düsteren Melodien und lauten Tönen, als sollte das an den Strand schlagende Wasser den Untergang der Welt einleiten.
Die letzten Meter lief sie schneller. Da war der Boden schon ebener geworden und von feuchtem und schwerem Sand bedeckt. Der Weg lief in der kleinen Bucht aus. Die Strömung transportierte immer wieder Gegenstände an den Strand.
Auch an diesem Morgen.
Lucy blieb stehen, als der Sand unter ihr noch weicher und feuchter geworden war. In schaumigen Streifen liefen die Wellen dicht vor ihren Füßen aus, doch andere Dinge waren jetzt wichtiger. Die Wellen hatten das Erbe des Sturms in ihre Nähe gebracht und zum Teil sogar schon an den Strand gespült.
Tief atmete Lucy durch. Die kalte Luft tat ihr gut. Lucy lächelte zuckend. Ihre Wangen hatten sich gerötet. Weiter vor ihr trieb ein Mast auf dem Wasser. Hin und wieder verschwand er unter dem Druck des nassen Segeltuches, das sich von ihm nicht gelöst hatte. In seiner Nähe schaukelten Holzteile auf und ab und näherten sich dabei aber weiter.
Lucy wartete. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Sie schaute aus schmalen Augen über das Meer hinweg, denn sie wußte, daß diese Trümmer nicht alles waren.
Das Gefühl in der vergangenen Nacht wollte sie bestätigt sehen. Diese Ahnung, dieser Traum und dieses Wissen hatten sie nicht grundlos erfaßt.
Da kam noch etwas…
Es war ganz nah, sehr nah.
Das Rauschen der Wellen hatte sie vergessen, und sie hörte auch nicht das Schreien der Vögel, denn sie sah jetzt endlich den Gegenstand, auf den sie gewartet hatte.
Tief atmete sie durch.
Da war er. Das mußte er einfach sein. Es gab für sie keine andere Möglichkeit.
Aus ihrem Mund drang ein tiefes Stöhnen, das irgendwie auch befreiend klang. Etwas unternehmen konnte sie nicht. Lucy mußte sich dabei auf die Strömung verlassen, und sie wußte genau, daß diese sich nicht geändert hatte.
Der Gegenstand würde zu ihr hingetrieben werden, hinein in die Bucht, vor ihre Füße - und dann…
Sie wagte nicht, daran zu denken. Die Spannung wurde bei ihr zum Fieber. Um noch mehr erkennen zu können, beschattete sie ihre Augen mit den Händen. An manchen Stellen glänzte das Meer wie ein matter Spiegel, der von Wellen bedeckt war.
Und in diese Helligkeit hinein trieb der Gegenstand, geführt von der Strömung, weitergeleitet durch die Wellen, immer näher kommend, und Lucy konnte ihn jetzt besser erkennen.
Es war eine Kiste, lang und recht schmal.
Lucy lächelte wieder. Ihr Herz klopfte schneller. Sie hörte die Schläge in ihrem Kopf. Außerdem wußte sie, daß es jetzt nicht mehr lange dauern konnte, bis der Gegenstand vor ihren Füßen lag. Sie würde sich dann mit ihm beschäftigen können.
Noch mußte sie warten, aber sie ließ den Gegenstand nicht aus den Augen, der so kurz vor dem Strand immer wieder von den Wellen zurückgezerrt wurde.
Mal tanzte die Kiste auf den Wellen, mal sank sie tiefer in die Täler hinein, dann war sie überhaupt nicht mehr zu sehen, aber sie kam jedesmal wieder hoch, wurde nicht an den Felsen zerschlagen.
Die Kiste schrammte hin und wieder daran entlang, aber sie zersplitterte nicht, und das sah Lucy als gutes Vorzeichen an.
Daß sie weiter vorgegangen war, hatte sie unbewußt getan. Die schaumigen, breiten Streifen erwischten bereits ihre Füße und rollten über sie hinweg.
Wieder drückte eine Welle heran wie eine Wand. Sie stellte sich plötzlich hoch, packte die Kiste, um ihr einen gewaltigen Schub zu geben, der sie mit etwas Glück bis an den Strand herangetrieben hätte, doch so weit war es leider noch nicht.
Lucy mußte warten, bis die Kiste endlich an Land war.
Zunächst einmal wurde sie wieder zurückgeholt, geriet dann abermals in den Kreislauf hinein, und als der nächste Schub die Kiste erfaßte, dann jubelte Lucy vor Freude.
Endlich!
Sie hatte es geschafft. Sie stand dicht vor der Vollendung ihrer Träume. Sie brauchte nur mehr zuzugreifen, und sie tat dies auch, denn sie eilte mit raschen Schritten durch den nassen Sand auf die Kiste zu, die jetzt nicht mehr zurückgerissen wurde. Im Augenblick jedenfalls nicht.
Zwar rollten die Wellen noch heran, ergossen sich auch über die Kiste, aber sie zerrten sie nicht mehr weg.
Lucy lief durch das
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