0946 - Angst um Lucy
ich, wie mir das Blut in den Kopf stieg. Bill schaltete den Lautsprecher ein, so daß wir mithören konnten.
Sheila ahnte schon etwas, sagte aber nichts, sondern holte nur schnaufend Luft.
Die Stimme des Mannes aus Lianfair klang gepreßt. So redete nur jemand, der unter Druck stand und große Sorgen hatte. »Ich muß Ihnen sagen, daß Lucy verschwunden ist.«
»Ihre Tochter?«
»Ja, sie ist weg.«
»Ähm – von zu Hause weggelaufen? Das gibt es. Kinder tun es, weil sie plötzlich von einem abenteuerlichen Drang überfallen werden und sich…«
»Nein, das ist es nicht.«
»Was denken Sie denn?«
»Meine Tochter wurde geholt, entführt, gekidnappt, wie auch immer.« Es war zu hören, daß Jack Tarlington nur mühsam die Beherrschung bewahrte. »Ich wollte mit John Sinclair reden, man sagte mir in seinem Büro, daß ich ihn bei Ihnen finden kann.«
»Das stimmt. Er hört auch mit, Jack. Sie können also völlig normal sprechen.«
Wir vernahmen das scharfe und auch gequält klingende Lachen.
»Normal ist gut. Wissen Sie was meine Frau und ich hier durchmachen, Bill? Können Sie sich das denken?«
»Ja, Jack, denn meine Frau und ich haben ebenfalls einen Sohn und uns schon mehrmals in einer ähnlichen Lage befunden wie sie. Es ist bisher noch immer gutgegangen. Vielleicht geht es bei Ihnen auch gut aus. – Bestimmt sogar.«
»Ich weiß es nicht.«
»Können Sie denn genau berichten, was passiert ist?«
»Ja, ich werde es versuchen. Ich selbst war ja nicht dabei und muß das wiedergeben, was mir Donna berichtet hat.«
In den folgenden fünf Minuten sprach nur er, und wir hörten zu.
Es begann mit der vergangenen Nacht, und es hörte mit dem Verschwinden der zehnjährigen Lucy auf.
Einmal legte Bill eine Hand auf die Sprechmuschel und flüsterte mir zu: »Blutflecken auf dem Kissen, John. Male am Hals…«
Ich winkte ab. Gleichzeitig dachte ich über unsere letzte Unterhaltung nach, die wir miteinander geführt hatten, bevor Sheila gekommen war. Vor meinem geistigen Auge entstand das Bild des grauenhaften Vampir-Phantoms, eines Monstrums, das durch Mareks Pfahl vernichtet worden war, während die Augen des versteinerten Gesichts auf dem Pendel geglüht hatten. Das Wesen hatte sich aufgelöst. Es war zu einer flirrenden Staubwolke geworden und dann wieder verschwunden. Wohin, das wußte keiner von uns. Wir waren davon ausgegangen, daß es nicht mehr existierte, denn so hätte es sein müssen. Wir kannten die Spielregeln. Sehr oft schon hatten wir alte und uralte Vampire vernichtet und zugeschaut, wie ihre alten Körper zusammenbrachen, um sich letztendlich in Staub aufzulösen. Reste, die oft genug vom Wind verweht wurden.
Hier schien es anders zu sein. Bei Lucy mußte das Phantom zurückgekehrt sein. Das Kind hatte die Gefahr gespürt und war schreiend aus seinem Traum erwacht.
»Mehr kann ich Ihnen nicht sagen!« hörten wir Jack Tarlington sprechen. »Wir haben auch keinen direkten Beweis, sondern nur einen Verdacht, der aber bringt uns beinahe um den Verstand.«
»Das kann ich Ihnen nachfühlen«, sagte Bill. Jack Tarlington konnte zum Glück nicht sehen, wie er sich ratlos umschaute, denn eine Lösung war ihm nicht eingefallen.
»Bitte, Bill, geben Sie uns einen Rat. Was sollen wir denn jetzt tun? Neben mir steht eine verzweifelte Frau, die sich die größten Vorwürfe macht, weil sie Lucy allein gelassen hat und diesem Phantom somit eine Chance gab.«
»Das kann ich alles begreifen, Jack. Was ich Ihnen nun sage, mag Ihnen möglicherweise ungewöhnlich vorkommen, aber sind Sie denn sicher, daß Lucy von diesem Vampir-Phantom entführt wurde?«
»Von wem denn sonst?«
Tarlington war durcheinander und mußte sich erst sammeln, bevor er sprechen konnte. »Gibt es für Sie denn noch eine andere Möglichkeit, Bill? Eine normale?«
»Ich brauche Sie wohl nicht zu fragen, ob sie zu einer Freundin gegangen ist, das werden Sie schon selbst getan haben…«
»Sicher, das haben wir.«
»Gut, aber Sie haben uns auch von Lucys Erlebnisse in der Nacht berichtet und von denen, die Ihre Frau mitbekommen hat, ohne daß es ihr gelang einzugreifen.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Auf die Erscheinung.«
»Sie meinen das Kind, das Wesen, mit dem wir nicht zurechtkamen?«
»Genau das.«
»Und was soll das mit Lucys Verschwinden zu tun haben?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Jack, aber Lucy hat diese Erscheinung doch als angenehm erlebt. Zumindest nicht als negativ. Oder habe ich Sie da falsch
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