0946 - Angst um Lucy
jetzt stand wieder jemand vor ihr, der Lucy hieß. Das wollte sie nicht akzeptieren, und deshalb schüttelte sie auch den Kopf.
»Nein, das kannst du nicht sein. Du – du kannst nicht auch noch Lucy heißen.«
»Warum sollte ich dich belügen?«
Fast hätte das Mädchen angefangen zu weinen. »Das kann ich nicht begreifen. Es gibt so viele Namen. Warum heißt du denn auch Lucy? Du hast doch nichts mit der blutigen Lucy zu tun.«
»Doch, das habe ich!«
Für ein Kind, das soviel Schlimmes durchgemacht hatte, war diese Antwort zuviel. Lucy stieß ein Schluchzen aus. Sie senkte den Kopf und verkrampfte die Hände zu Fäusten zusammen, Sie wünschte sich, daß alles nicht wahr wäre, und sie starrte ins Leere, während sie spürte, daß sich ihre Augen mit Tränen füllten. Einen Moment später zuckte sie zusammen, denn da hatte der Engel – oder auch nicht der Engel, sie an der Wange berührt. Sie hörte die sanften, leicht singenden Worte, als die andere sagte: »Du darfst nicht traurig sein und auch nicht weinen. Es wird alles gut werden, das hoffe ich. Ich bin dir noch etwas schuldig. Ich habe einen Fehler begangen, der mich nicht zur Ruhe kommen läßt. Es hätte alles nicht zu sein brauchen, aber jetzt bin ich ja bei dir und werde auch weiterhin bei dir bleiben.«
Lucy hatte Mühe, die richtigen Worte zu finden. Sie hob die Schultern und drehte dabei den Kopf. »Ich kann damit nicht zurechtkommen«, sagte sie leise.
»Wieso was schuldig? Du bist doch böse. Die blutige Lucy ist grausam und…«
»Es gibt sie nicht mehr. Sie ist vernichtet worden. Man hat sie gepfählt, und damit ist es vorbei.«
Das Mädchen hatte alles verstanden. Ruckartig hob es den Kopf und wischte dabei die Augen tränenfrei. »Nein, sie ist nicht tot, du hast mich angelogen.«
Die Freundin schüttelte den Kopf.
»Du bist doch Lucy!« schrie das Kind.
»Ja auch, aber anders.«
»Wie denn?« rief die Kleine verzweifelt. »Das kann ich nicht packen!« Ihre Stimme wurde weinerlich.
»Ich werde es dir erklären, mein Liebes. Wir sind hier in meiner Welt, in der Welt der Seelen, am Tor des Himmels, wenn du so willst. Du siehst diese Welt so, wie sie in deiner Phantasie ist. Wie sie tatsächlich ist, kann man nicht beschreiben. Aber das Bild, das man sich von ihr gemacht hat, das entsteht dann, wenn ein Mensch die Grenze überschreitet. Du hast diese Welt in deinen Vorstellungen, Träumen und Phantasien immer als große, blumige Wiese gesehen, das weiß ich, und so zeigt sie sich dir auch, das muß ich noch einmal wiederholen. Ich halte mich in dieser Welt auf, denn ich bin kein Mensch. Ich sehe sie richtig, und ich möchte sie dir jetzt nicht beschreiben, aber eines kann ich dir versprechen, auch ich bin Lucy Tarlington. So habe ich mal geheißen, bevor sich ein Teil von mir dem Bösen zuwandte.«
Die andere Lucy hatte zugehört. Sie hatte es nicht geschafft, ihren Mund zu schließen. So wie sie sah nur jemand aus, der völlig überrascht worden war.
»Du bist dann auch…«
»Nur ein Teil. Ich bin die Seele der alten Lucy Tarlington, die Seele der blutigen Lucy, deren Körper nicht verging, weil er das Blut der Menschen aufgenommen hatte. Vampire haben keine Seele. Sie verlieren sie in dem Augenblick, wenn sie der tödliche Biß erreicht. Aber die Seele eines Menschen ist nicht schlecht, sie ist immer etwas Besonderes, und sie wird es auch ständig bleiben – bis in alle Ewigkeiten. Ich habe als Seele keine Ruhe finden können, weil der Körper so grausame Dinge tat, aber ich habe zugeschaut und erlebt, was man dir antun wollte. Da habe ich eingegriffen. Ich bin zu dir gekommen in Kindergestalt, denn so wie ich hat die blutige Lucy früher einmal als vierzehnjähriges Mädchen ausgesehen. Für dich hat die Seele Gestalt angenommen, um dich vor dem Bösen zu beschützen.«
Das Kind schwieg. Der Mund stand offen. Die Augen waren groß und rund. Es konnte nur noch staunen, alles hinnehmen, aber nichts fassen oder begreifen.
Die Freundin legte ihr wieder eine Hand auf die Schulter und fragte: »Vertraust du mir endlich?«
»Das muß ich ja – nicht?«
»Nein«, die Antwort klang sanft. »Du sollst es nicht müssen, du sollst davon nur überzeugt sein. Ich möchte dich einfach vor dem Bösen schützen, das ist alles.«
»Vor dem Bösen?« flüsterte Lucy. »Wo oder was ist das Böse?«
»Du hast es doch erlebt, nicht wahr?«
»Im Turm? Das Phantom?«
»Ja.«
»Es ist doch tot. Das war der alte Mann mit dem Pfahl. Der hat
Weitere Kostenlose Bücher