0948 - Der Hort der Sha'ktanar
Lächeln wich nicht aus Merlins Gesicht. »O nein. Ich kann euch nicht retten.«
»Aber du sagtest doch, dass…«
Der Magier hob den Arm und Zamorra verstummte. »Für euch wird es keine Rettung geben. Auch für eure Kinder oder Kindeskinder nicht. Du hast vollkommen recht: Ich kann nicht das, woran ihr seit Jahrtausenden scheitert, mit einem Fingerschnipsen vollbringen. Dazu bedarf es mehr. Viel mehr!«
»Ich verstehe nicht!«
Merlin machte eine weit ausholende Geste. »Dies ist nicht die einzige Welt. Es existieren unzählige andere. Manche von ihnen ähneln der, die ihr kennt, und manche unterscheiden sich so sehr von ihr, dass ihr nicht fähig wärt, euch auch nur eine winzige Vorstellung davon zu machen. Und doch haben all diese Welten eines gemeinsam: Auf ihnen gibt es Gut und Böse.« Er hob die Hände mit den Handflächen nach oben vor den Körper, als liege in beiden ein Stein. »Meine Aufgabe ist es, auf die Einhaltung des Gleichgewichts zu achten.«
Zamorra lachte auf. Er klang verbittert. »Um das hier auszugleichen, muss es irgendwo eine Welt geben, auf der es den Menschen verdammt gut geht!«
Der Magier achtete nicht auf den Einwand. »Wenn sich die Erbfolge wie bisher so ungehindert entwickeln kann, droht die Waage auf die Seite des Bösen auszuschlagen.«
»Und das kannst du verhindern?«
»Mit eurer Hilfe.«
»Worauf warten wir dann noch? Was müssen wir tun?«
Eine tiefe Traurigkeit mischte sich in Merlins Lächeln. »Es ist ein langwieriger, grausamer Weg, den ihr gehen müsst. So langwierig, dass er euch nicht mehr zu retten vermag, sondern erst ferne Generationen nach euch. Seid ihr dazu wirklich bereit?«
Die Priester und Priesterinnen nickten. Zuerst zaghaft, doch dann immer überzeugter.
»Seid ihr dazu bereit?«, fragte Merlin noch einmal. »Ihr könnt dazu beitragen, dass endlich gelingt, was euren Vorfahren so lange verwehrt geblieben ist. Der Sieg über den Erbfolger. Er wird euch Opfer abverlangen, die über alles hinausgehen, was ihr euch vorzustellen vermögt. Doch es ist der einzige Weg. Ein anderer existiert nicht. Seid ihr also tatsächlich bereit?«
»Ja!«, lautete die einhellige Antwort. »Was müssen wir tun?«
Ein Gedanke schlich sich in Zamorras Bewusstsein (In Wirklichkeit haben sich diese Ereignisse sicher nicht so schnell abgespielt. Vermutlich hat es Merlin Stunden der Diskussion und Erklärungen gekostet, statt die Lemurer lediglich mit einem mitreißenden »Gebt mir ein J, gebt mir ein A!«, auf seine Seite zu ziehen.) und verflüchtigte sich auch schon wieder. Doch dieser Augenblick hatte ausgereicht, die Umgebung um ihn dahinrasen zu lassen. Während eines einzigen Wimpernschlags vergingen Tage - was Zamorra hinnahm, ohne sich darüber zu wundern.
Als das Bild zur Ruhe kam, befanden sie sich nicht mehr in einer verlassenen Jagdhütte in den Bergen zwischen Hysop und Celuru, sondern in einem Tempel. Oder besser gesagt: in dem, was die Schergen des Erbfolgers von dem Tempel übrig gelassen hatten. Ein paar halb eingestürzte Mauern, Geröll auf den einst kunstvoll verzierten Fliesen, Staub, Erde, vereinzelt sogar menschliche Knochen.
Nur höchst selten zogen sich die Rebellen in die ehemaligen Stätten ihrer religiösen Kulte zurück. Zu groß war die Gefahr, von den Dämonen in Diensten des Erbfolgers ertappt zu werden. Ein endlos langes Sterben wäre ihnen gewiss gewesen. Doch diesmal schien der Anlass angemessen genug, dieses Risiko einzugehen. Außerdem hatte Merlin bei ihrer Zusammenkunft in der Jagdhütte einen Ort mit ritueller Vergangenheit für die Übergabe verlangt.
(Tatsächlich? Daran konnte sich Zamorra gar nicht erinnern. Dennoch zweifelte er es keine Sekunde lang an. Das musste geschehen sein, als die Zeit dahinraste.)
Also hatten sie sich einen kleinen, weitestgehend unbekannten Tempel ausgesucht, den Fußboden freigeräumt und stattdessen die hohen Vesu-ktanar - die Urnen der Streiter - als Zeichen der Hoffnung aufgestellt.
Mitten im Saal stand Merlin vor einem Hohepriester, der sogar den goldenen Würdenstab aus dem Versteck geholt hatte, in dem dieser die letzten dreißig Jahre vor der Entdeckung durch die Dämonenschar verborgen gewesen war. Statt der üblichen schmucklosen, aber unauffälligen Wollkleidung trug er das rituelle Gewand der Rebellenpriester.
Ein wahrhaft feierlicher Anblick, den Zamorra aus der zweiten Reihe genoss. Außer ihm füllten noch mindestens fünfzig Personen den Tempel, doch bei Merlin im Zentrum der
Weitere Kostenlose Bücher