0948 - Leonoras Alptraumwelt
fragte ich. »Wir können uns auch nicht irgendwo verkriechen, denn die Phantasie läßt sich nicht einsperren. Wir sind ihr völlig ausgeliefert. Ich habe mich nicht wehren können. Es war mir einfach unmöglich, es ging alles zu schnell.«
»Wie schnell?«
Ich kam mit dieser Frage nicht zurecht. »Was meinst du damit?«
»Blieb dir keine Zeit, um eine Gegenmaßnahme einzuleiten?«
»Nein.«
»Dann hast du es nicht kommen sehen?«
»Nicht das eigentliche Ziel. Ich wußte wohl, daß etwas geschehen würde, aber ich konnte mir nicht vorstellen - nein…« Ich schüttelte den Kopf. »Es war einfach absurd.« Meine flache Hand klatschte auf den Tresen. »Wer hätte auch damit rechnen können? Du kannst natürlich sagen, daß wir unter der Kontrolle dieser Leonora Vendre stehen, aber wir haben in der letzten Stunde nicht mehr so richtig daran geglaubt, da wir zu sehr abgelenkt waren.«
»Das stimmt.«
»Dann hat sie dich kalt erwischt. Und sie wird es auch nicht weiter versuchen. Bei dir und bei mir. Was du erlebt hast, war erst der Anfang, eine Ouvertüre. Es wird weitergehen, und es wird auch verflucht hart werden.«
»Und wir können uns nicht wehren.«
»Das war es, auf das ich kommen wollte, John. Können wir uns wirklich nicht wehren?«
»Das hast du doch bei mir gesehen.«
»Schon, aber man hat dich überrascht. Es war das erste Mal. Beim zweiten Mal gelingt es vielleicht nicht, dich so kalt zu erwischen. Da kannst du dann versuchen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, ebenso, wie ich es versuchen werde.«
»Schön. Und welche?«
»Weiß ich nicht.«
»Sollte ich meine eigenen Gedanken dagegensetzen?«
»Das wäre eine Möglichkeit.«
»Damit komme ich nicht zurecht, Suko. Es ist ja blitzartig geschehen, und wenn mich dieser Phantasieschock trifft, wird man mir kaum die Chance geben, eine eigene Abwehr aufzubauen.«
Er ließ nicht locker. Kein Wunder, ihm war es noch nicht widerfahren. »Wenn du aber zum zweiten Mal von…«
Eine Stimme unterbrach ihn. »Ich bin jetzt ein Mörder, nicht wahr?« Der Kellner brachte die Frage jammernd hervor. »Ich habe den Pfeil geworfen, aber ich wollte es nicht. Ich wollte es wirklich nicht.« Er hob die Schultern. »Es ist einfach so über mich gekommen.« Der Mann hatte sich auf seinem Stuhl gedreht und starrte mich an. »Ja, so ist es passiert. Einfach über mich gekommen.«
Auch wir hatten uns umgedreht. Suko verließ seinen Platz und setzte sich zu dem verzweifelten Mann, der ähnlich fühlen mußte wie ich. Und ich fühlte mich wie ein alter, ausgewrungener Lappen.
Oder wie eine Hülle ohne Seele.
Die Kontrolle hatten andere über mich gewonnen. Nein, eine andere Person, diese verdammte Voodoo-Hexe - oder wie auch immer. Wir hatten sie unterschätzt, denn sie war auf ihre Art und Weise so mächtig wie der Teufel.
Lange konnten sich Suko und der Kellner nicht unterhalten, denn wir hörten schon den Klang der Sirene. Der Wagen mit dem Arzt war da, und jetzt konnten wir nur noch hoffen, daß der Wirt überlebte.
Suko übernahm das Kommando. Er führte den Arzt und zwei Helfer hinter den Tresen. Wir hatten unsere Kollegen nicht alarmiert. Sollte der Mann jedoch an den Verletzungen sterben, dann mußten wir es tun.
Ich konnte den Wirt nicht sehen, weil mir die Männer den Blick versperrten. Der Arzt kniete in dieser Enge neben dem Mann. Suko war zurückgewichen und nickte mir zu.
»Was ist?« fragte ich.
»Er lebt.«
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Auch der Kellner hatte es gehört. »Stimmt das?« rief er. »Stimmt es, daß er lebt?«
Ich bestätigte es.
Der Mann war so erleichtert, daß er nach vorn sank und zu weinen anfing. Suko meinte: »Wir werden ihn freilassen. Diese Sache geht nur uns etwas an. Ich will nichts vertuschen, aber es ist besser, wenn es nicht an die große Glocke gehängt wird.«
»Einverstanden.«
Eine Trage stand neben dem Tresen. Sie war bereits hochgebockt worden. Die beiden Sanis legten den Verletzten behutsam darauf und schoben sie dem Ausgang zu.
Der Arzt blieb noch für einen Moment bei uns stehen. »Ein Unfall, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Suko. »Ein Unfall und zugleich ein böser Zufall. Wird der Mann überleben?«
»Ich hoffe doch. Genaueres kann ich erst sagen, wenn ich die Röntgenaufnahme gesehen habe. Wir werden den Pfeil in der Klinik vorsichtig entfernen.«
»Danke, Doc.«
»Ihre Namen habe ich ja.« Er lächelte. »Es ist wirklich gut, daß es zwei Polizisten als Zeugen gab.«
»Das können Sie wohl
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