0949 - Die geronnene Zeit
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Er kanalisierte die Magie und zwang Splitter seiner Lebensenergie in seine Tränen. Mit der Sichel schnitt er Teile von seiner Kutte ab, knüllte sie zusammen und legte sie auf den Boden. Dann folgten einige Hände voller Gras und zum Abschluss ein Stück seines Barts. Mit einem magischen Funken setzte er das Gemisch in Brand. Bereits nach wenigen Augenblicken stieg beißender Qualm auf.
Merlin hielt sein Gesicht so lange in den Rauch, bis seine Augen zu tränen begannen. Rasch beugte er sich wieder über den Teich und ließ die Tränenflüssigkeit in die Quelle tropfen. Zwölfmal musste er den Vorgang wiederholen, bis sich die Löcher am Himmel endlich schlossen und das Dunkel aussperrten.
Die Gefahr war beseitigt, doch die Quelle behielt ihr angewelktes, kränkliches Bild bei. Der Teich war nur noch ein brackiger Tümpel.
Was mit dem bereits eingedrungenen Dunkel geschehen war, wusste Merlin nicht. Zurückschicken oder vernichten konnte er es nicht. Aber vielleicht erlosch es im Laufe der Zeit, wenn die Kraft des Lebenswassers nach und nach zunahm.
Er überlegte, ob er von Kesriel den Seelenhort zurückfordern sollte, um mit den darin verbliebenen Sha'ktanar-Seelen der Quelle ihr ursprüngliches Aussehen wiederzugeben. Doch er war nicht sicher, ob das überhaupt funktionieren würde. Außerdem sah er in der Trostlosigkeit dieses Ortes eine angemessene Ermahnung für die Hüterin, nie wieder die Regeln zu missachten.
Langsam stemmte er sich hoch. Der Zauber hatte ihm einiges an Kraft abverlangt. Er fühlte sich erschöpft und wollte am liebsten drei Tage lang schlafen. Aber er hatte noch so viel zu tun.
Wie ihm die letzten Ereignisse gezeigt hatten, war die Quelle des Lebens zu anfällig. Wer wusste, wie er es anzustellen hatte, konnte sie zu leicht vernichten.
Das durfte nicht geschehen. Deshalb musste er sie schützen. Mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen.
»Komm zu mir!«, befahl er Assara.
Mit gesenktem Blick schlurfte die durch das trübe Wasser auf ihn zu. »Es tut mir leid«, murmelte sie. »Ich hätte auf dich hören sollen.«
»Das hättest du! Und ich werde dafür Sorge tragen, dass du es zukünftig tust. Zieh dich aus und leg deinen Schmuck ab.«
Assara wagte nicht, die Anordnung zu hinterfragen. Sie tat es einfach und legte alles auf einen Haufen am Ufer.
Als sie nackt vor ihm stand, legte er ihr die Hand so auf den Schädel, dass Daumen und kleiner Finger an den Schläfen zu liegen kamen. »Ich werde dir nun die Erinnerung an dein früheres Leben nehmen. Du wirst deinen Namen vergessen, du wirst deine Vergangenheit vergessen, du wirst alles vergessen. Nicht einmal deine Kleidung soll dich noch an den Menschen erinnern, der du einst gewesen bist.«
Nur wenige Augenblicke später war der Zauber vollbracht.
Merlin hob den goldenen Kelch auf, der am Ufer des Teichs lag. »Befolge stets die Gesetze der Quelle, Hüterin! Nie wieder darf ein Auserwählter selbst von dem Wasser trinken. Du wirst es ihm reichen. Falls nötig, wirst du diesen Ort mit Waffengewalt verteidigen.«
Er wob einen weiteren Zauber und mit einem Mal verwandelte sich der Kelch in ein Schwert. Er reichte es der Nackten.
»Erst wenn ein Auserwählter sich als würdig erwiesen hat, wird sich das Schwert zurückverwandeln, sodass du ihm den Kelch reichen kannst. Denke daran! Es darf immer nur ein Auserwählter trinken! Niemals darf zu schnell zu viel Kraft von der Quelle fließen. Niemals, hörst du? Auch wenn der Erbfolger mehrere Personen hierher leitet, darf stets nur einer diesen Ort als Unsterblicher wieder verlassen.«
Er wandte sich Atrigor zu, der noch immer unbeteiligt in die Gegend blickte.
Erst allmählich schien er ins Leben zurückzukehren. »Lass uns gehen!«
Hätte Merlin gewusst, dass das Dunkel Assara berührt und ihren Verstand dadurch ein wenig getrübt hatte, hätte er geahnt, dass sie die Gesetze deshalb so auslegte, dass ein Auserwählter seinen Konkurrenten töten müsse, dann hätte er vermutlich jemand anderen als Hüter eingesetzt.
So aber schnappte er sich nur die Überbleibsel aus Assaras Vergangenheit und verließ mit Atrigor die Quelle.
***
Sein Inneres brennt, als bestünde er nur aus Haut und Lava. Er weiß nicht, wo er sich befindet. Er weiß nicht, wie er heißt. Er weiß nicht, was geschehen ist.
Doch die Erinnerungen kehren zurück. Eine nach der anderen.
Zuerst sein Name: Atrigor.
Er war an der Quelle des Lebens. Doch nun steht er wieder in einem Wald. Neben
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