0950 - Visionen des Untergangs
ist. Beschütze mich, ich bin doch immer fleißig in die Kirche gegangen!
Celine spürte, wie sich ihre Nackenhärchen aufstellten und sie trotz der Hitze plötzlich fror. Alle an sich selbst gerichteten Beteuerungen, dass an diesem Unsinn absolut nichts dran sei, wurden von ihrer steigenden Angst überdeckt.
Gestern, am frühen Morgen, war es wieder passiert, als sie gerade an der Waschschüssel stand. Der Blitz in ihrem Gedächtnis war nicht mehr so grell. Dafür sah sie die Bilder, die sich daraus schälten, umso deutlicher. Eine riesige Lavawelle, die den ganzen Horizont einnahm, stürzte wie ein brüllender Tsunami direkt auf sie zu! Furchtbar anzusehende Wesen wurden durch die Luft gewirbelt. Ein flirrendes Etwas tauchte plötzlich zwischen ihnen auf.
Schlagartig verschwanden die Bilder wieder. Celine keuchte und musste sich auf den Rand ihres Feldbetts setzen. Die Schwäche in ihren Beinen ließ kein Stehen mehr zu.
Dämonen. Waren diese wirbelnden Wesen tatsächlich Dämonen gewesen? Es gab doch keine Dämonen. Oder doch? Hatte sie soeben einen Blick in das Reich geworfen, in das der erzürnte Pharao, von dem noch nicht mal klar war, wie er überhaupt geheißen hatte, sie stoßen würde? War das eben die Hölle gewesen?
Celine fühlte sich elend. Auch deswegen, weil sie zwischen den beiden Visionen immer das Gefühl gehabt hatte, jemand versuche aus dem Unsichtbaren heraus Kontakt mit ihr aufzunehmen, ohne aber richtig durchzukommen.
Gott sei Dank konnte sie heute ihren turnusmäßigen dreitägigen Urlaub antreten und nach Kairo fahren, wo sie ein Hotelzimmer in der Nähe des Ataba-Platzes gemietet hatte.
Und hier war sie nun. Celine liebte Kairo. Normalerweise. Das lärmende Treiben, die Gegensätze zwischen Orient und Okzident, die nirgendwo deutlicher wurden als hier. Vor allem auf dem Ataba-Platz zwischen Altstadt und dem modernen Kairo hielt sie sich gerne auf, streifte im Strom der Araber über den größten Fischmarkt der Stadt, lauschte den großspurigen Sprüchen der Verkäufer, bummelte unter den Arkaden der angrenzenden Häuser, wo Händler Gebrauchtgegenstände und anderen Trödel feilboten und ging schließlich zu den Buchhändlern an der Nordseite des Platzes.
Heute nicht. Das Menschengedränge machte Celine plötzlich Angst, der Lärm der lebendig aufgehängten Hühner und Gänse ließ sie fast verrückt werden. Eigentlich hatte sie gehofft, dass mit dem weiten Abstand vom »Tal der Könige« auch ihre Unruhe schwinden würde. Das Gegenteil war eingetreten.
Die Französin verließ den brodelnden Platz und ging durch schmale Gässchen. Es war nicht besser hier mit dem Gedränge, sie wusste nicht einmal, warum sie gerade hierher ging und wo sie eigentlich hin wollte. Celine schwitzte stärker als gewohnt, musste sich immer wieder den Schweiß von der Stirn wischen. Daran änderte auch die leichte Brise nichts, denn sie wehte feinen weißen Staub von den nahen Mokattam-Hügeln herüber und erschwerte ihr das Atmen dadurch noch.
Im »Quartier«, einem malerischen alten Stadtteil, begegnete sie Zauberern, Wahrsagern, Astrologen und Fakiren, Magiern und Medien. An einer aus bunten Steinblöcken gehauenen Haus wand hockte ein alter, zerlumpter Mann mit schmutzigem Turban und predigte seinen zahlreichen Zuhörern zahnlos vom Weltuntergang, wenn nicht endlich die Reichen den Armen mindestens die Hälfte ihres Vermögens überließen. Tatsächlich klapperten immer wieder Piaster auf das Pflaster. Celine starrte den Alten an. Schwarze Nebel umwaberten ihn und lösten sein Fleisch auf. Plötzlich saß ein Skelett an der Wand!
Celine schrie grässlich auf. Das Skelett, das immer noch mit den Armen fuchtelte und den beinernen Unterkiefer bewegte, begann sich um sich selbst zu drehen, schneller, immer schneller, bis es Mittelpunkt eines rasenden Wirbels war, der Celines Augen auf eine albtraumhafte Ebene führte. Von giftigem Grünbraun war sie, dürrer Boden ohne den kleinsten Bewuchs. Dafür war sie mit Knochen übersät! Celine erkannte menschlich wirkende Skelette, völlig fremdartige, verkrümmt liegende, gebrochene und zerfetzte Gebeine - und einen mächtigen Riss, der vom Horizont her über die Ebene raste, sich tausendfach verästelte und sie schließlich auseinander bröckeln ließ. Die Teile der Ebene verschwanden in einem finsteren, brodelnden Schlund, an dessen Himmel plötzlich Gesichter erschienen…
Menschliche Gesichter? Celine erkannte die verbrannten Züge von fünf, sechs
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