0956 - Die Todeszone
dem Garten, der zum Arbeitszimmer hinaufdrang - und sein Magen verkrampfte sich. Es fiel ihm immer noch schwer, hier zu sein, nach all diesen Jahren.
»Es freut mich, dich zu sehen«, sagte Fu Long bedächtig. »Vor allem angesichts der Umstände.«
Zamorra nickte und nippte an seinem grünen Tee. Das Getränk war fast geschmacksneutral, doch jeder Schluck ließ die Erinnerungen in ihm regelrecht explodieren. Wie oft hatte er nur wenige Meter von hier seinen Tee getrunken, wenn er nach einem langen Tag im Palast den Abend gemeinsam mit Shao Yu hatte ausklingen lassen. Doch das war lange her. Sechs Jahre. Oder über zweitausend. Wie man's nahm.
»Es ist ein Wunder, dass wir beide den Kollaps der Hölle unbeschadet überstanden haben«, sagte er. »Wenn große Reiche untergehen, reißen sie in der Regel jede Menge Unschuldige mit in den Abgrund.«
»In der Tat«, erwiderte Fu Long lächelnd. Zamorra hatte den chinesischen Vampir nicht mehr so entspannt gesehen, seit der Wächter der Schicksalswaage ihn gezwungen hatte, das Amt des Fürsten der Finsternis zu übernehmen. »Und es ehrt mich, dass du mich zu den Unschuldigen zählst.«
Der Herrscher von Choquai war eine absolute Ausnahmeerscheinung unter den schwarzmagischen Kreaturen, eine menschliche Seele, gefangen im Körper eines Vampirs. Ihn interessierten die Intrigen und Ränkespiele nicht, mit denen die meisten Schwarzblütigen vor dem Ende der Schwefelklüfte ihre Zeit verbracht hatten. Er wollte mit seiner Familie nur in Ruhe leben. Deshalb hatte er sich nach Choquai zurückgezogen, der Goldenen Stadt der Vampire, die nur in den Träumen des Götterdämons Kuang-shi existierte.
Unter seiner Herrschaft hatte sich Choquai in eine friedliche Welt verwandelt, die nichts mit dem brutalen Vampirreich zu tun hatte, das Zamorra einst kennengelernt hatte. Zehn Jahre lang hatte er ohne Erinnerung an sein wahres Ich in einer anderen Version dieser Stadt gelebt, die vor zweitausend Jahren am Hauptstrom des Yangtze existiert hatte. Dieses Reich war längst untergegangen, dennoch gelang es dem Dämonenjäger nicht, die Schatten der Vergangenheit zu vertreiben. [1]
»Es fällt dir nicht leicht, hier zu sein«, sagte Fu Long. Der chinesische Vampir wirkte verlegen. Zamorra nippte nachdenklich an seinem Tee, bevor er antwortete: »Zu viele Erinnerungen.«
Fu Long nickte bedächtig und nahm ebenfalls einen Schluck Tee. Natürlich brauchte der Vampir keine menschlichen Nahrungsmittel. Aber er hielt gerne an alten Ritualen fest, die ihn mit seiner menschlichen Existenz verbanden.
»Und was fängst du jetzt mit all deiner freien Zeit an?«, fragte Zamorra, um das Thema zu wechseln. »Du bis ja jetzt quasi arbeitslos.«
»So würde ich das nicht sagen.« Fu Long lächelte. »Das Leben eines Herrschers ist selbst in Choquai nicht immer das reinste Zuckerschlecken. Aber du hast recht, ich bin endlich wieder ein freier Mann. Ohne die Hölle braucht schließlich niemand einen Fürsten der Finsternis. Ich denke, damit bin ich offiziell aus meinem Frondienst für den Wächter der Schicksalswaage entlassen.«
»War sowieso eine Schnapsidee, ausgerechnet dich zum Fürsten der Finsternis zu machen.«
»Wem sagst du das?« Fu Longs Augen blitzten amüsiert. »Ich habe mich wirklich nicht darum gerissen. Aber was ist mit dir, mein Freund? Dein Leben dürfte sich ebenfalls stark verändert haben.«
»Offenbar haben genug Schwarzblütige den Höllencrash überlebt, um uns weiterhin ordentlich auf Trab zu halten. Aber ohne die meisten unser Hauptgegner könnte es in den nächsten Jahren tatsächlich etwas ruhiger werden.«
Fu Long bedachte den Dämonenjäger mit einem merkwürdigen Blick. »Ich würde nicht darauf wetten.«
»Was meinst du damit?«, fragte Zamorra verwundert. Der Chinese sah ihn ernst an, jede Leichtigkeit war plötzlich aus seinem Verhalten verschwunden.
»Ich habe mein Amt als Fürst der Finsternis wahrlich nicht geliebt, aber es hat mir eins erneut sehr deutlich vor Augen geführt: Zwischen den widerstreitenden Kräften in dieser Welt muss es immer einen Ausgleich geben. Es kann keine Kraft geben ohne Gegenkraft, keine Aktion ohne Gegenreaktion, wenn die universelle Harmonie nicht gestört werden soll. Diese Art von Logik ist einem Chinesen sehr vertraut.«
»Yin und Yang?«
Fu Long lächelte nachsichtig. »Als kaiserlicher Beamter des - eurer Zeitrechnung nach - 19. Jahrhunderts bin ich selbstverständlich nach konfuzianischen Grundsätzen erzogen worden.
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