0956 - Die Todeszone
Yin und Yang sind eher verbunden mit dem Daoismus. Aber letztlich basiert unsere ganze Kultur auf dem Denken in Gegensätzen, die sich nicht ausschließen, sondern ergänzen und gegenseitig bedingen.«
»Wie Hühnchen süßsauer?«
Trotz des ernsten Themas musste Fu Long lachen. »Es ist klar, dass eine Langnase wie du auf so ein banales Beispiel kommen muss. Aber du hast recht, die Harmonie der Gegensätze durchzieht unser ganzes Sein, einschließlich unserer Speisen.«
»Und das bedeutet, dass das Gute das Böse zwangsläufig braucht?«
»Nicht nur das. Ein so gewaltiges Ereignis wie die Vernichtung der Hölle wird zwangsläufig eine ebenso gewaltige Gegenreaktion nach sich ziehen. Möglicherweise so gewaltig, dass du dir wünschtest, du hättest die Hölle nie vernichtet.«
***
Loire-Tal, Frankreich
Nicole Duval gähnte herzhaft, nippte an ihrem Kaffee und gähnte nur noch ausgiebiger. Obwohl Zamorras Lebensgefährtin, Sekretärin und Partnerin im Kampf gegen die Mächte der Finsternis schon seit Stunden auf den Beinen war, fühlte sie eine Mattigkeit, gegen die selbst Mostaches Höllengebräu nur wenig ausrichten konnte. Durch das unvermutete Ende der Hölle war eine jahrzehntelange Anspannung von der schönen Französin gewichen, die jetzt ihren Tribut forderte.
Das Ende der Hölle. Nicole konnte immer noch nicht fassen, dass die Schwefelklüfte tatsächlich Geschichte sein sollten. Wie viele Jahre hatten sie gegen LUZIFERS Heerscharen gekämpft, wie viele Freunde und Gefährten hatte sie dabei verloren. Und jetzt war es vorbei. Einfach so.
Nicole Duval war nicht naiv. Sie hatten immer noch nicht die geringste Ahnung, wie viele Schwarzblütige den Kollaps der Schwefelklüfte unbeschadet überstanden hatten. Dass es auch weiterhin brodelte, bewies schon allein das Verschwinden Londons vor einigen Tagen. Doch bevor sie und Zamorra etwas dagegen unternahmen, wollten Nele Großkreutz und Paul Hogarth von Scotland Yard erst einmal herausfinden, was es mit dem großen Baum, der unter der Tate Gallery herausgewachsen war, überhaupt auf sich hatte. Fest stand, dass Zamorra nicht einfach hingehen und mit dem Amulett das Verschwinden der großen Stadt rückgängig machen konnte. Nele, die 800jährige Frau, die Zamorra gerufen hatte, hatte angeblich eine Ahnung, wie es dazu gekommen war - Zamorra wollte sie erst einmal arbeiten lassen, bevor er etwas Übereiltes tat.
Deswegen hielten sich Nicole und Zamorra derzeit in einer Art Warteposition. Die meisten Überlebenden der Hölle würden sich hüten, vorschnell aus der Deckung zu kommen, sodass es aussah, als hätten sie wirklich einmal eine Atempause. Mit etwas Glück würden die nächsten Jahre etwas weniger aufreibend ausfallen als die vergangenen dreieinhalb Jahrzehnte.
Zur Feier des Tages war Nicole spontan zu einem ausgedehnten Einkaufsbummel in Feurs aufgebrochen und hatte bei ihrer Rückkehr im Dorf bei Mostache haltgemacht. Jetzt saß sie an ihrem Stammtisch in der schönsten - weil einzigen - Kneipe des idyllischen Ortes unterhalb von Château Montagne. Traditionell wurde der »Montagne-Tisch« für Zamorra und seine Gefährten freigehalten. Der einzige, der sich ebenso traditionell nicht daran hielt, war Asmodis - oder Sid Amos, wie sich der ehemalige Fürst der Finsternis gelegentlich nannte. Seine penetranten Besuche hatten den Inhaber Mostache dazu inspiriert, seine Gaststätte in einem Anflug von schwarzem Humor schlicht »Zum Teufel« zu nennen und einen hölzernen Teufelskopf mit mächtigen Hörnern über die Tür zu hängen.
Die Dorfbewohner wunderte das nicht weiter. Mit stoischer Gelassenheit hatten sie in den vergangenen Jahren den Einzug des Übernatürlichen in ihr beschauliches Dorfleben hingenommen, ob schusselige Jungdrachen, telepathisch begabte Wölfe oder ehemalige Höllenfürsten, so schnell brachte sie nichts mehr aus der Fassung. Solange sie in Frieden ihr bescheidenes Leben leben und ab und an bei Mostache einen heben konnte, waren sie mit allem zufrieden.
Und das mit dem Heben taten sie gern und ausgiebig. Obwohl es gerade mal zwei Uhr war, war die Gaststube schon gut gefüllt, und die meisten Gäste beließen es nicht bei einem Kaffee. Am Tresen erkundeten der ehemalige Fremdenlegionär Gerard »Malteser-Joe« Fronton, Pater Ralph und der größte Weinbergpächter der Gegend, André Goadec, gerade mit wahrem Forschergeist Mostaches Spirituosenvorräte, und auch der resolute Wirt hatte sich zur Feier des Tages bereits den
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