0958 - Der Keller
Schrecken, die Folter - den Tod…
***
Der Wind hatte auch am Nachmittag nicht nachgelassen. Nach wie vor wehte er aus östlicher Richtung und brachte eine sibirische Kälte mit. Gisela Behle fluchte vor sich hin. Sie mußte husten. Eine Erkältung bahnte sich an. Dann dachte sie an den Abend. Er würde noch schlimmer werden. Die Kälte blieb, und Gisela mußte das verdammte Industriegelände erreichen, bevor es dunkel wurde.
Sie ging weiter. Den Kopf gesenkt. Allein durch eine graue, tote Landschaft.
Es blühte noch nichts. Kein Strauch gab eine erste Frühlingsbotschaft ab. Es gab nur die verdammte Kälte, die den Osten Deutschlands überflutet hatte.
Es gab auch keine Seen oder Teiche mehr. Nur Eisflächen, nur diese großen, grauen Augen, die ebenfalls grauen Wolken darüber und die Märzsonne, die kaum wärmte, weil der Wind einfach zu stark war und alles an sich riß.
Gisela kämpfte sich voran. Nur selten wurde sie von einem Auto überholt.
Niemand hielt an. Wer nahm schon jemanden mit, der aussah, als wäre er einer finsteren Höhle entsprungen?
Der Wind biß in Giselas Gesicht, als wollte er die Haut in Stücke schneiden. An der linken Seite sah sie Häuser der Stadt. Vororte, die als graue Gebilde in eine ebenfalls graue Landschaft gestellt worden waren.
Rechts von ihr breitete sich bereits das Industriegelände aus. Ein gewaltiger Komplex. Damals hatte man dort Stahl gekocht, aber auch chemische Produkte hergestellt. Alles auf einem Gelände. Man hatte sehr rational gedacht und war trotzdem in die Pleite gerutscht. Niemand hatte den Industriekomplex aufkaufen und vor dem Untergang bewahren wollen, so war er noch mehr verrottet, und die Umwelt trug auch weiterhin großen Schaden. Hier war alles verseucht. Wer hatte schon bei den Kommunisten auf den Umweltschutz geachtet?
Niemand. Dafür war kein Geld dagewesen.
Gisela Behle blieb stehen, als sie das Verwaltungsgebäude des Konzerns sah.
Mein Gott, es war noch immer da. Die Burg, der Schlund, die Bonzenfalle, so war der Bau genannt worden, und er hatte alles überdauert. Und sicherlich war noch der große Spruch über dem Eingang zu lesen.
ES LOBT DEN MANN DIE ARBEIT UND DIE TAT Gisela mußte krächzend lachen, als sie daran dachte. Sie hatte auch gearbeitet, war aber entlassen worden. Nun war sie zurückgekehrt und mußte mit ansehen, wie tot das Haus war.
Aber sie lebte noch.
Gisela nickte. Entschlossen nahm sie den Rest des Weges in Angriff.
Die Müdigkeit in ihren Knochen war vergessen. Der Schlund sollte ihr Schutz geben, und dieses Gefühl wollte sie so lange wie möglich genießen.
Nichts war mehr abgesperrt. Es gab zwar noch die Zäune und Gitter, aber man hatte sie umgerissen. Auf dem Erdboden lagen sie wie vergessen. Ruinen, Reste einer Zeit, die längst vorbei war.
Es war kalt auf dem Gelände, aber das lag nicht nur am Wetter. Die Kälte ging auch von dem aus, was auf dem Gelände gestorben war.
Totes Eisen, verrostetes Material. Eingerissene Mauern. Rohre, durch die nichts mehr lief. Sie waren zusammengeknickt, oft aus dem Verbund gerissen und schauten mit ihren Öffnungen nach unten. Aus manchen tropfte noch etwas hervor. Eine dünne Flüssigkeit. Vielleicht Säure.
Gisela Behle kam sich vor wie in einem Film, der auf einem fremden Planeten spielte, wo ein wilder Krieg geherrscht hatte und sie als einzige überlebt hatte. Es gab kein Wasser mehr, es gab nichts zu essen, aber es gab den Mann.
Plötzlich stand er vor ihr!
Alles war so schnell gegangen, daß Gisela Behle den Schrei nicht hatte unterdrücken können. Sie spürte den Schreck tief in ihrem Innern, und sie merkte auch, wie ihre Knie anfingen zu zittern.
Der andere gehörte zu den Berbern. Mit einem Blick erfaßte sie es. Er trug eine Wollmütze, unter deren Rand grau das Haar hervorwucherte.
Sein Gesicht sah rötlich aus, als hätte er geblutet.
»Wer bist du?« fragte der Vollbärtige.
»Was geht dich das an?«
»Stimmt. Du willst doch nicht in den Schlund?«
»Das hatte ich vor.«
Der Penner schaute Gisela an. So etwas wie Mitleid entdeckte sie in seinem Blick. »Wirklich?«
»Ja.«
»Und du weißt Bescheid?«
»Worüber?«
»Daß der Schlund ein riesiger Sarg ist. Der holt sich alle, die ihn betreten. Ich war auch drin, deshalb kann ich dir das sagen.«
»Aber du bist nicht von ihm geholt worden.«
»Stimmt.«
»Dann weiß ich nicht, was du willst. Ich will nur eine gute Stelle für die Nacht haben. In der letzten wäre ich fast erfroren. Ich
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