0958 - Der Keller
feuchte Schicht hinterlassen hatte.
Sie kannte dieses Erwachen. Zumindest passierte es nach einem Alptraum, und so etwas hatte sie öfter.
Aber nicht hier.
Sie konnte sich an keinen Traum erinnern. Sie war nur wach geworden und lag jetzt in dem kalten Glaskäfig.
Es war der Wind. Der Durchzug. Auch die Portiersloge hatte die meisten Scheiben verloren, und so hatte der Wind fast freie Bahn.
Allmählich wich die Taubheit in ihrem Kopf. Gisela Behle fühlte sich wieder besser. Sie war klarer geworden. Sie konnte tief durchatmen. Es ging ihr gut.
Nein, es ging ihr nicht gut. Etwas störte sie. Sie fror. Die Umgebung war anders geworden, denn sie hatte ihre nächtliche Ruhe einfach verloren.
Es war still, aber es gab trotzdem Geräusche. Nicht zu identifizieren für die lauernd daliegende Frau, aber auch nicht zu überhören, denn diese Geräusche gehörten einfach dazu.
Der Wind bahnte sich seinen Weg.
Er war noch immer kalt, wehte durch die Öffnungen, bahnte sich seinen Weg, zerrte an den Decken, auf denen Gisela lag, dann rauschte er weiter und ließ die Tür erzittern.
Gisela Behle richtete sich auf und fragte sich sofort, ob es der Wind gewesen war, der sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Das konnte sein, mußte aber nicht.
Die Frau wollte auch nicht mehr liegenbleiben. Vor dem Hineinkriechen in den Schlafsack hatte sie sich nicht ausgezogen. Sie trug noch immer ihre Parkajacke, darunter die Strickjacke, den Pullover und das Hemd.
Sie kroch aus dem Schlafsack. Ihre Gelenke waren ziemlich steif geworden.
Als sie die Arme streckte, hörte sie das Knacken und verzog den Mund.
Sehr langsam kam sie hoch. Jetzt traf sie der Durchzug voll: kalter Ostwind »grüßte«.
Im Mund und auf der Zunge spürte hatte sie einen Geschmack, der nicht zu beschreiben war. Schon widerlich, nach Wein und alten Lumpen, wie die Frau meinte. Sie hätte viel für einen Schluck Wasser gegeben, aber dafür mußte sie aufstehen.
Durch die offene Tür wollte sich Gisela Behle drücken, als sie plötzlich das Rascheln hörte. Sie blieb stehen. Ihr Herz klopfte schneller, der Blick war nach vorn gerichtet. Dann aber atmete sie auf, denn der Wind hatte nur ein Stück Papier durch das Erdgeschoß bewegt, und das hatte das Rascheln verursacht.
Lächerlich. Sie verzog den Mund. Wieso kriegt man da Angst? Und überhaupt, es gab keinen Grund, um Angst zu bekommen. In einer fremden Umgebung zu übernachten, war für sie nichts Neues. Sie schlief eigentlich jede Nacht woanders.
Aber hier war es anders.
Das Haus wurde auch »der Schlund« genannt. Es war gierig, es war wie eine gewaltigen Maschine, die alles in sich hineinfraß, die alles Leben holte.
Eine dämonische Maschine, angetrieben vom Blut der Opfer, die der Schlund schon in sich hineingezogen hatte.
»Du bist verrückt!« schimpfte sich die Frau selbst aus. »Du bist verrückt und machst dir was vor.« Sie hatte sich nicht von Karls Erzählungen beeinflussen lassen.
Und so ging sie weiter. Geduckt - einen Schritt vor den anderen setzend.
Sie sah nichts, denn es war ziemlich finster.
Trotz der Parkajacke fing die Frau an zu frösteln, als sie weiter in die Halle hineinschritt und daran dachte, daß sie ja nicht allein hier schlief.
Wieder kam sie sich verloren vor. Sie steckte inmitten einer düsteren Maschine, von deren Zentrum aus die verschiedenen Gänge und Tunnels abzweigten, um in irgendwelchen Bäuchen zu verschwinden, wo Opfer und Material verarbeitet wurden.
Unsinn, das Stampfen bildete sie sich nur ein. Hier bewegte sich nichts, nur sie oder mal ein Stück Papier, das vom Wind erwischt wurde. Selbst Ratten oder Mäuse entdeckte sie nicht. Der Schlund war leer.
»Karl!« Sie zischelte den Namen ihres Leidensgenossen, der sein Lager neben dem Paternoster aufgeschlagen hatte. Gisela sah es als bauschiges Bündel.
Der Mann antwortete nicht. Er war tief und fest eingeschlafen und hielt es auch durch.
Gisela Behle schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht akzeptieren, daß sie keine Antwort bekam. Karl mußte etwas gehört haben. Leute wie er schliefen nicht mehr so tief. Sie waren immer auf dem Sprung und in einer gewissen Bereitschaft. Außerdem war von ihm nichts zu hören.
Keine Atemzüge, kein Schnarchen, und das beunruhigte die Frau am meisten.
Er konnte tot sein. Darüber brauchte man nicht zu lachen. Sie selbst hatte erlebt, wie jemand neben ihr gestorben war. Schon älter war der Kollege gewesen, der in der Nacht einen Schlaganfall oder einen Infarkt erlitten
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