0958 - Der Keller
hatte.
Sein schreckliches Röcheln hatte sie noch aus dem Schlaf gerissen, das war dann alles gewesen. Mehr hatte sie nicht von dem Kollegen gehört, der am anderen Morgen erst abtransportiert worden war.
Herzattacke, Schlaganfall. Die verdammte Kälte. Wenig Vitamine. Es schössen Gisela schon einige Vorstellungen durch den Kopf, als sie sich dem Schlafenden näherte.
»He, Karl!« Sie versuchte es noch einmal. »Verdammt noch mal, gib Antwort!«
Karl rührte sich nicht. »Scheißkerl!« schimpfte Gisela. »Verdammter Scheißkerl, mach doch keinen Mist! Laß mich in diesem Schlund nicht allein. Du kannst…« Sie stoppte ihr Flüstern. Es war der Schock, der sie so hatte reagieren lassen, denn plötzlich blickte sie auf das Bündel.
Die Decke, den Schlafsack, die Tüten - verlassen. Wo war Karl?
Sie fing an zu lachen. Karl hatte ihr gar nicht antworten können. Er hatte sie nicht gehört, denn er war nicht mehr in diesem Haus. Er mußte es in den letzten Stunden verlassen haben. Vielleicht auch vor ein paar Minuten.
Jedenfalls war er nicht tot. Keinen Herzschlag, kein Schlaganfall. Er lebte noch. Wahrscheinlich hatte er mal gemußt und hockte irgendwo draußen.
Gisela ging zur Seite. Ihre Sohlen schlurften über den schmutzigen Boden.
Sie fühlte sich mies, eingeengt. Die Nacht war schlimm, das wußte sie genau. Sie war irgendwie anders. Nicht ruhig, nicht laut, aber anders.
Vor der Treppe blieb sie stehen, vor der, die in den Keller führte.
Mit den Händen klammerte sie sich am Handlauf fest. Irgend etwas zog sie an, sie konnte aber nicht sagen, was es war. Als wäre dort unten in der Schwärze jemand, der einzig und allein auf sie wartete, um ihr etwas zu zeigen.
Die Finsternis irritierte die Frau. Sie war so grau, so dicht, so anders. Am liebsten hätte sie ihre Sachen gepackt, um zu verschwinden. Das aber brachte sie nicht fertig. Es ging ihr gegen den Strich. Sie dachte auch an Karl, der sie mitgenommen hatte, und sie fühlte sich irgendwie für ihn verantwortlich.
Während sie schlief, war etwas geschehen. Es hatte eine Veränderung gegeben, die Gisela spürte, aber nicht sah. Sie schlich wieder in die ehemalige Portiersloge zurück und faßte in eine schmale Seitentasche ihres Rucksacks.
Dort bewahrte sie die schmale Taschenlampe auf. Für Notfälle war sie immer gut, und die Frau hatte beschlossen, daß hier ein Notfall anlag.
Sie mußte etwas herausfinden, dazu brauchte sie Licht.
Gisela Behle schob sich wieder in den Flur. Der Schlund hatte sie geschluckt.
Die Kälte kam ihr vor wie kalter Ruß, der sich auf ihre Haut gesetzt hatte. Selbst in den Lippen verspürte sie keine Wärme, und ihr Mund begann zu zittern.
Dann hatte sie Karls Lager erreicht. Sie schaltete die Lampe ein und ließ den Strahl kreisen, der nicht viel aus der Dunkelheit hervorholte. Eine schmutzige Umgebung mit Fußabdrücken auf dem Boden. Papier, viel Dreck, den der Wind hier zusammengefegt hatte, das alles gehörte dazu und störte sie nicht weiter.
Es wunderte sie nur und beunruhigte sie auch, daß sie keine Spuren entdeckte. Auf dem Boden hätten die Abdrücke zu erkennen sein müssen, wäre Karl auf den Ausgang zugelaufen.
Das war nicht der Fall.
Steckte er noch in der Nähe?
Etwas Kaltes glitt über ihren Rücken hinweg, und dieser Hauch war nicht durch eines der Fenster geweht, sondern aus der Tiefe des Kellers gekommen.
Wie ein Omen…
Der Keller!
Was war so Besonderes daran? Nichts. In fast jedem Haus gibt es einen Keller, auch in solchen Riesengebäuden. Dort war die Energiezentrale untergebracht. Da wurde geheizt, vielleicht konnte man dort auch Strom erzeugen. Oft riesige Räume, unheimliche Dome unter der Erde, voller Gefahren steckend.
Auch hier?
Gisela Behle atmete scharf ein, als wollte sie die Qualität der Luft prüfen, die aus dem Schacht nach oben wehte. Sie war irgendwie anders. Nicht nur kälter, auch staubiger oder rußiger. Sie schmeckte nach Vergangenheit, nach altem Dreck, nach Lumpen, nach etwas, das es nicht mehr gab oder geben sollte.
Sie leuchtete über die Stufen hinweg. Der Strahl erfaßte die Kanten. Das Licht riß den Schmutz hervor, der auf den Stufen lag. An einigen Stellen schimmerten sie feucht. Sie waren glatt geworden, ohne daß Eis auf ihnen lag.
Mit den Wänden verhielt es sich ähnlich. Auch sie hatten im Laufe der Zeit Dreck angesetzt. Sie waren grau geworden. Der Staub klebte wie eine dünne Haut auf ihnen.
Am Rand der Treppe blieb Gisela stehen. Bis zu Karls
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