0959 - Asmodis’ Hölle
unerhörten Vorgang ständiger Fehlsprünge, auch wenn sie nicht ganz so gravierend waren, zu begreifen. Durch den Untergang der Schwefelklüfte schienen sich die ehernen Konstanten des Magischen Universums um eine Winzigkeit verschoben zu haben. Ungenauigkeiten waren die Folge. Das betraf möglicherweise aber nur die schwarzmagisch orientierten Wesen, da das schwarze und weiße Energieniveau des Magischen Universums völlig unabhängig voneinander arbeiteten.
Künftig muss ich also zum Erreichen meiner Ziele stärkere magische Kräfte als vorher aufwenden. Möglicherweise kann ich sogar magische Aktionen, bei denen ich mit meinen Kräften in den Grenzbereich komme, gar nicht mehr durchführen, weil besagte Kräfte dafür einfach nicht mehr ausreichen. Aber das werde ich später testen. Jetzt sind erst mal andere Dinge wichtiger.
Asmodis erreichte den Markusplatz, auf dem sich momentan Tausende Touristen und mindestens ebenso viele Tauben aufhielten. Er betrat die Markusbibliothek am unteren Ende des Platzes, zwischen dem Campanile , dem Glockenturm der Markuskirche und der Münzanstalt Zecca gelegen. Der prächtige, säulengeschmückte Palast, der 1588 vom Architekten Sansovino vollendet worden war, beherbergte nicht nur eine der bedeutendsten europäischen Bibliotheken; bei den bisher fast 50 Leitern, die unter den verschiedensten Namen bekannt geworden waren, handelte es sich doch immer um ein- und denselben - den Dämon Aravius nämlich, dem die Bibliothek seit ihrer Einrichtung Leidenschaft und Lebensinhalt zugleich geworden war. Mit seinem ungeheuerlichen Wissen, das er noch immer mit einer Unersättlichkeit sondergleichen sammelte, reichte er zwar noch lange nicht an die Teuflischen Archivare, die es ja nun auch nicht mehr gab, heran. Trotzdem wusste er Dinge, die selbst hohen Höllenadligen nicht bekannt gewesen waren.
Aravius war dennoch nie ein wirklich bedeutender Dämon gewesen, denn er hatte immer im Schatten der Teuflischen Archivare gestanden. Trotzdem hatte sich Asmodis plötzlich an ihn erinnert. Die Dreifingerschau hatte ihm bestätigt, dass Aravius wie anscheinend alle Dämonischen, die sich zum Zeitpunkt des Untergangs außerhalb der Schwefelklüfte aufhielten, überlebt hatte.
Aravius, der die Bibliothek unter dem aktuellen Namen Marcantonio Sabellico leitete, empfing Asmodis unter zahlreichen Verbeugungen.
»Welch hohe Ehre für mich, Asmodis, ehemaliger Fürst der Finsternis. In all den Jahrhunderten, seit ich hier bin, hast du mich nicht ein einziges Mal besucht. Was kann ich für dich tun? Ich freue mich, dir helfen zu können. Und ich freue mich, dass Teile des Höllenadels anscheinend doch überlebt haben. Was man so hört, soll es ja so gut wie alle Dämonenfürsten erwischt haben. Kannst du mir sagen, warum die Hölle untergegangen ist?«
»Nein, kann ich nicht«, zischte Asmodis ihn an, während er mit hinter dem Rücken verschränkten Händen vor dem großen Fenster stand und auf die sonnenüberflutete Lagune hinaus blickte, auf der sich Hunderte von Booten und Schiffen bewegten. »Und du tätest gut daran, mich nie wieder danach zu fragen.«
»Natürlich, natürlich«, gab Aravius erschrocken zurück und fiel vor Asmodis auf die Knie. »Verzeih, Fürst, ich wollte nicht impertinent sein. Aber du weißt, dass ich Wissen samm…«
»Spar's dir, Aravius. Ich bin tatsächlich hier, weil ich etwas von dir wissen will.«
»Es wäre mir eine Ehre.«
»Hast du schon mal etwas vom Dunklen Apfel gehört?«
Aravius legte die Handflächen zusammen und starrte Asmodis aus seinen schielenden Augen an, auch wenn der den Eindruck hatte, Aravius sehe links und rechts an ihm vorbei. »Nun, um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht genau«, erwiderte der Bibliotheksleiter schließlich bedächtig. »Möglicherweise ja, aber wenn dem so sein sollte, ist es mir wieder entfallen. Ich müsste in den Beständen meiner Bibliothek suchen. Wie du sicher weißt, bin ich nicht nur der Herr über eine Million Bücher, dreizehntausend Handschriften und vierundzwanzigtausend Drucke aus dem sechzehnten Jahrhundert samt zweitausendzweihundertdreiundachtzig Inkunabeln, sondern auch über drei Millionen teils geheime Schriften, die die Geschichte des Magischen Universums und der Schwefelklüfte näher beleuchten. Nun, äh, ich hoffe sehr, dass ich dir wirklich noch behilflich sein kann, Fürst.«
Asmodis verzog das Gesicht. »Was willst du damit sagen?«
»Nun, die Sache verhält sich so: Vor rund tausend Jahren
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