096 - Die Gräfin von Ascot
Die Häuser waren klein, und Morlay schloß daraus, daß hier viele Arbeiter wohnten. Als sie die Straße weiter hinaufgingen, stellten sie fest, daß die Frau in Haus Nr. 17 gegangen war.
Sie kehrten zur Hauptstraße zurück. Das Auto, in dem Mrs. Carawood angekommen war, hatte inzwischen gewendet und wartete nun in einiger Entfernung auf der anderen Seite der Straße. Dicht dahinter stand eine große, elegante Limousine, ein ungewöhnlicher Anblick in dieser Gegend. Peas ging darauf zu und betrachtete den Wagen. »Wem gehört der Wagen?« fragte er. »Sir George Horbin«, entgegnete der Chauffeur.
Das war der Name eines berühmten und bekannten Spezialarztes aus der Harley Street.
»Was macht Sir Horbin denn in dieser Gegend?«
»Er ist zu einem schweren Fall gerufen worden«, erwiderte der Chauffeur gleichgültig.
Einen Augenblick später warf er seine Zigarette fort und öffnete die Tür. Ein untersetzter Mann näherte sich dem Wagen und stieg eilig ein. »Nach Hause!« sagte er kurz, und der Chauffeur fuhr ab. »Die Leute hier in Rotherhithe müssen ja viel Geld haben«, meinte Peas. Er sah sich um und dachte darüber nach, ob hier in der Nähe ein Hospital oder ein Krankenhaus lag. Aber das war nicht der Fall. Als die beiden wieder auf die andere Seite der Straße gingen und an der Ecke der kleinen Gasse vorüberkamen, sahen sie, daß Mrs. Carawood das Haus Nr. 17 verließ. Sie blieb einen Augenblick stehen und sprach noch mit einem Mann, dann eilte sie zur Hauptstraße zurück. Die beiden folgten ihr wieder bis zur Penton Street und warteten, bis sie ins Haus gegangen war.
Zehn Minuten später erschien das kleine Auto wieder vor der Seitentür. Herman stieg aus, öffnete die Tür mit einem Schlüssel, und kurz darauf trat Mrs. Carawood, elegant gekleidet, aus dem Haus. »Die Garage muß hier in der Nähe liegen«, sagte Peas. »Herman hat nur so lange dort gewartet, bis sie ihn anrief. Ich glaube kaum, daß er etwas von dieser Verkleidung weiß.«
Mrs. Carawood stieg wieder ein, und sie schauten dem Wagen nach, bis das rote Schlußlicht außer Sicht kam.
»Ich glaube, es hat keinen Zweck, daß ich heute abend noch mit Herman spreche«, meinte der Inspektor. »Aber eines kann ich Ihnen sagen - wenn ich dieses Geheimnis nicht aufklären kann, reiche ich meine Kündigung ein und fange an, Kriminalromane zu schreiben.« Am Dienstagmorgen fuhr John nach Ascot, wo er zur Frühstückszeit ankam. An diesem Tag wurden die Rennen eröffnet, und John Morlay trug einen eleganten Cut und Zylinder, da Mrs. Carawood eine Loge auf den Tribünen gemietet hatte. John hielt sich für sehr gut angezogen, bis er die kleine Villa erreichte und dort Julian sah. Dann wußte er, daß er seinen Meister gefunden hatte.
»Sieht er nicht fabelhaft aus?« fragte Marie. »Ich habe ihn schon den ganzen Morgen bewundern können. Warum er sich bereits vor dem Frühstück angezogen hat, mag der Himmel wissen. Wir haben doch noch viel Zeit bis zum Beginn des Rennens.«
»Glänzend«, gab John zu, seine Stimme klang aber etwas ironisch.
Mr. Julian Lester fühlte sich jedoch dadurch in keiner Weise angegriffen oder verlegen.
Als die beiden allein waren, erzählte er John, wie herrlich es am Sonntag noch gewesen sei. Den vorigen Abend hatte er mit Marie zugebracht, und er glaubte, daß er sich mit ihr verständigt hatte.
»Verstehen Sie unter Verständigung etwa Verlobung?« fragte John, dem bei diesem Gedanken schwach wurde.
»Das gerade nicht. Ich wollte damit nur sagen, daß Marie und ich nahezu dieselbe Lebensauffassung haben.«
»Das kann ich aber durchaus nicht glauben.« John erinnerte sich plötzlich an das nächtliche Abenteuer. »Ist Mrs. Carawood in die Stadt gefahren?«
»Nein, sie hat nur ein paar Freunde in der Nachbarschaft besucht. Ich habe sie nicht danach gefragt, wie die Leute heißen. Ich habe immer den Eindruck, daß man sie besser in Ruhe läßt. Es wäre ja möglich, daß sie - geschäftlich zu tun hätte -«
Julian nahm John beim Arm und ging mit ihm quer über den gutgepflegten Rasenplatz.
»Ganz offen gesagt, John, die Situation mit Marie ist ein wenig heikel. Wissen Sie auch, daß das arme Kind nicht die geringste Ahnung davon hat, wie ihr Geld angelegt ist oder ob sie überhaupt ein Vermögen besitzt? Sie sagte mir sogar, sie hätte das Gefühl, daß sie nicht einen einzigen Shilling besäße und ganz von der Güte von Mrs. Carawood abhängig wäre.«
»Warum sind Sie eigentlich so scharf darauf, etwas
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