096 - Die Gräfin von Ascot
eilte zu dem Zimmer des jungen Mädchens. Als er das Licht andrehte, sah er, wie bleich sie war.
Der Sturm tobte draußen mit unverminderter Stärke weiter, das Rauschen des Regens klang gewaltig, aber keiner der drei achtete darauf. »Ich wachte plötzlich auf«, sagte Marie, noch ganz außer sich, »und sah, daß ein Mann in meinem Zimmer war. Er stand ganz nahe an meinem Frisiertisch. Wahrscheinlich ist er über den Balkon durch die offene Glastür hereingekommen. Ich schrie, plötzlich verschwand er.« »Vermissen Sie etwas?« Sie schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie und versuchte zu lächeln. »Aber sicher habe ich den Schlaf dieser Nacht, meinen Frieden und meinen Glauben an Detektive eingebüßt!«
Er ging in ihr Zimmer; soviel er sehen konnte, war nichts angerührt worden. Die kostbaren Bürsten und Kämme in Goldfassung waren vollzählig vorhanden. Marie folgte ihm auf dem Fuß. »Der Ring!« rief sie plötzlich. »Er ist fort.«
Sie sah unter den Frisiertisch und dahinter, aber das kleine rote Lederetui mit dem Geschenk Julians war verschwunden.
»Wo haben Sie ihn denn hingelegt?«
»Dorthin!« Sie zeigte auf die Ecke des Frisiertisches.
»Wissen Sie das auch ganz genau?«
Sie nickte.
»Ja, um halb zwei lag er noch hier auf der Ecke.« »Aber wir haben uns doch kurz vor zwölf getrennt, Marie.« Sie sah Mrs. Carawood an und senkte den Blick. »Ja, aber ich habe mich nicht sofort hingelegt.«
Sie war ungewöhnlich ernst. Es mußte sie wohl noch ein anderes Ereignis mitgenommen haben. Noch im Augenblick vorher hatte sie gelacht und war zum Scherzen geneigt. John Morlay verstand sie nicht ganz. »Würden Sie den Mann wiedererkennen?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf.
Er trat auf den Balkon hinaus und sah, daß eine Leiter ans Geländer gelehnt war. Mrs. Carawood folgte ihm und stieß die Leiter um, so daß sie der Länge nach auf den Rasen fiel.
»Sie müssen schon seit langer Zeit dieses Haus beobachtet haben. Die Leiter hängt sonst an der Hinterfront; die Einbrecher wußten also gut Bescheid.«
Der Vorfall machte auf Mrs. Carawood noch größeren Eindruck als auf Marie. Sie ließ sich aber wenig anmerken.
»Gehen wir nach unten und trinken eine Tasse heißen Kaffee. Das Gewitter geht auch allmählich vorüber«, meinte sie beruhigend.
Aber damit hatte sie nicht recht. Die Grundfesten des Hauses erzitterten noch unter den gewaltigen Donnerschlägen, als sie zusammen in dem Speisezimmer saßen und den Kaffee tranken, den Mrs. Carawood inzwischen zubereitet hatte.
Marie war ernst geworden. Sie saß am Tisch und schaute auf die polierte Fläche. Nervös faltete sie die Hände und runzelte die Stirn. »Ich glaube, Julian wird sich sehr aufregen, wenn er das erfährt«, meinte Mrs. Carawood. »Obwohl der Ring sicher nicht viel gekostet hat.« Marie seufzte und sah dann auf.
»Ich werde ihn zurückbekommen. Das ist ganz gewiß.« »Ich würde mich darauf nicht zu sehr verlassen«, erwiderte John. »Es ist sehr schwer, gestohlene Stücke zurückzuerhalten. - Ich möchte wissen, ob der Einbrecher heute abend auch noch in einem anderen Haus war.« »Und ich werde den Ring doch zurückbekommen.« Marie nickte und lächelte wieder. »Ich habe eine bestimmte Vorahnung. Ich glaube, wenn der Einbrecher den Ring sieht und die rührende Inschrift liest, steckt er das Kästchen in einen Briefumschlag und schickt es mir per Post wieder zu. Wenn wir heute von den Rennen zurückkommen, liegt es unten in der Diele.«
»Sie scheinen tatsächlich das zweite Gesicht zu haben«, entgegnete John. »Es wäre nicht das erste Mal, daß ich etwas vorausgeahnt hätte.« Trüb dämmerte der Morgen, als sie sich wieder zur Ruhe legten. John schlief fest und traumlos, bis er dadurch geweckt wurde, daß kleine Kieselsteine auf den Boden des Zimmers fielen. Als er aufwachte, traf gerade ein Stein die Fensterscheibe. Es gab ein Loch. »Ach, das tut mir leid«, hörte er eine Stimme unten im Garten. Es war Marie.
»Seit zehn Minuten beschäftige ich mich schon damit, Steine durch Ihr Fenster zu werfen. Kommen Sie doch herunter, hier gibt es etwas für Sie zu tun.«
Es dauerte zwanzig Minuten, bis er unten auf dem Rasen war. Die Sonne schien strahlend, der Himmel war klar und blau, und alle Anzeichen sprachen dafür, daß es ein herrlicher Tag werden würde. »Kommen Sie doch mit mir in den Obstgarten.«
Auf der Hinterseite des Hauses waren mehrere Morgen Land mit Apfel-, Birn- und Pflaumenbäumen
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