096 - Die Gräfin von Ascot
Scotland Yard derartig interessierte. Ab und zu hatte er ja einen Einblick in die Methoden der Polizei gehabt. Er wußte auch, daß es in Scotland Yard nichts Neues war, wenn sich die Beamten lange Zeit mit den Verhältnissen irgendwelcher Personen beschäftigten und alle möglichen Nachforschungen anstellten, die im Grunde auf nichts hinausliefen und keine greifbaren Resultate zeitigten, wenn sich herausstellte, daß die verdächtige Person vollkommen unschuldig war.
Die Dunkelheit brach herein, als sie zur Penton Street kamen. Die Straßen und Gassen lagen zu dieser späten Stunde vollkommen verlassen. Sie hielten dem Laden gegenüber an.
»Ich halte es für das beste, daß ich Sie allein lasse, wenn Sie Ihre Nachforschungen anstellen. Von Herman werden Sie ja wohl kaum irgendwelche Verbrechen erfahren. Im Gegenteil, es wird sich herausstellen, daß Mrs. Carawood vollkommen ehrlich ist.«
Peas war gerade im Begriff, zum Laden hinüberzugehen, als ein kleines Auto in die Straße einbog und vor der Seitentür des Geschäfts hielt. Mrs. Carawood stieg aus; John Morlay erkannte sie sofort. Allem Anschein nach war sie allein.
Als sie auf die Tür zuging, öffnete sich diese sofort und blieb eine Weile offenstehen. Nach einiger Zeit kam Herman heraus, schloß sie sorgfältig, stieg in den Wagen und fuhr fort.
»Heute abend können Sie sich also nicht mit Herman unterhalten«, sagte John.
Er war erstaunt über das plötzliche Auftauchen von Mrs. Carawood, denn er hatte sie doch in Ascot zurückgelassen, und soviel er wußte, hatte sie durchaus nicht die Absicht gehabt, zur Stadt zu fahren. Es war ihm außerdem vollkommen neu, daß sie selbst ein Auto besaß und fahren konnte. Vielleicht hatte sie den Wagen irgendwo in einer Garage in Ascot untergestellt. Nicht einmal Marie wußte davon.
»Ich gäbe viel darum, wenn ich wüßte, warum sie von Ascot nach London gekommen ist«, meinte der Inspektor nachdenklich. »Es ist doch nichts Außergewöhnliches daran, wenn sie am Sonntagabend in die Stadt fährt«, erwiderte John.
Der Kriminalbeamte Schüttelte den Kopf, sagte jedoch nichts mehr darüber, sondern sprach von anderen Dingen, besonders über die Häuser in der Umgebung. Bevor verschiedene Hausinhaber hier Mietwohnungen eingerichtet hatten, war dies einmal eine vornehme Straße gewesen. Peas wußte sehr gut in Pimlico Bescheid.
Es hatte nicht den Anschein, als ob Herman bald zurückkehren würde. Peas machte gerade eine Bemerkung darüber, als sie sahen, daß sich die Seitentür des Ladens wieder öffnete und eine Frau vorsichtig auf die Straße trat. Sie schaute sich ängstlich nach rechts und nach links um. Wahrscheinlich hatte sie die beiden Männer nicht bemerkt. Es war Vollmond; die Seite der Straße, an der der Laden lag, war hell erleuchtet, aber die andere lag in tiefem Schatten.
John sah verblüfft zu der Frau hinüber. Mrs. Carawood war gut gekleidet gewesen, als sie aus dem Auto stieg und den Laden betrat, aber jetzt glich sie nahezu einer Vogelscheuche. Selbst bei Mondlicht konnte er erkennen, daß sie in Lumpen gehüllt war. Sie trug einen altmodischen, abgetragenen Hut und ein ärmliches Kleid und verschwand bald mit raschen Schritten in einer Seitenstraße.
»Was halten Sie davon?« fragte Inspektor Peas düster. »Die ist ja die reinste Lumpenliese!« John nickte.
»Sind Sie neugierig und wollen Sie mich begleiten? Oder soll ich allein gehen?«
»Ich komme mit!« sagte John und folgte dem Inspektor schnell über die Straße.
Sie konnten die Frau bald wieder vor sich sehen und holten allmählich auf. So vergingen etwa zehn Minuten. Als sie dann wieder in die Hauptstraße einbog, rief sie ein Taxi an. Die Tür schlug hinter ihr zu. Das Auto fuhr ab und war schon außer Sicht, als es Inspektor Peas endlich gelang, ein zweites Taxi aufzutreiben. Aber nach einiger Zeit hatten sie das Glück, den ersten Wagen wieder zu erreichen. Die Fahrt ging durch Piccadilly, durch die verlassene Innenstadt, dann über die Tower-Brücke in der Richtung nach Rotherhithe. Dort stieg Mrs. Carawood aus. Die beiden fuhren an ihrem Wagen vorbei, um kein Aufsehen zu erregen, und als Inspektor Peas durch das hintere Fenster schaute, sah er, daß sie in eine enge Gasse einbog. Er ließ sofort den Wagen halten, sprang heraus und folgte ihr. Gerade als sie an der Straßenbiegung ankamen, konnten sie noch sehen, daß sie in einem kleinen Haus verschwand. Es war keine verkommene, aber doch eine ziemlich ärmliche Gegend.
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