0962 - Der Leichenflur
er immer wieder auf. Das Kopfkissen dämpfte den Aufprall. Raver war so in seine Musik versunken, daß er mich auch dann nicht bemerkte, als ich ihm seinen Freund vor das Bett legte. Dabei schaute ich mir noch die Wände an, die mit Plakaten beklebt waren. Alles Werbung für Techno-Feten in London und Umgebung.
Es war schon lustig. Selbst als die Rhythmen nicht mehr aus den Boxen dröhnten, zuckte der Knabe weiter. Er trug ein graues Unterhemd und eine Hose aus billigem Leder. An den Seiten war sie mit hellen Nieten besetzt, ebenso wie der Gürtel.
Neben seinem Bett stellte ich mich auf und wartete, daß Raver wieder in die normale Welt zurückkehrte.
Es dauerte auch nicht mehr lange, denn seine Bewegungen wurden langsamer. Ich hatte Zeit, ihn genau zu betrachten und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
Die meisten Haare auf seinem Schädel hatte er entfernen lassen. Nur ein Büschel mitten auf dem Kopf war geblieben, das ebensogut hätte ein Vogelnest sein können.
Raver hatte ein knochiges Gesicht mit einem grauen Ziegenbart, eine lange, etwas gekrümmte Nase und einen schmallippigen Mund.
Ich stellte fest, daß er mich anschaute und fragte ihn: »Bist du wieder okay?«
»Hau ab!«
»Später. Ich wollte mich nur vorstellen. Ich heiße John Sinclair und bin der neue Mieter.«
Jetzt grinste er. »Wie lange willst du denn bleiben? Meinst du, daß du den Morgen noch erlebst?«
»Das will ich doch hoffen.«
Er richtete sich auf. »Okay, du hast gesagt, was du loswerden wolltest, und jetzt verpiß dich.«
»Willst du mir sonst Beine machen?«
»Auch das. Wahrscheinlich Flügel. So schnell geht das.«
Ich trat etwas zur Seite und bedeutete ihm, über die Bettkante zu schauen. »Da habe ich dir einen neuen ›Teppich‹ hingelegt, Raver, und ich denke, der kommt dir bekannt vor.«
Er glotzte nach rechts, erkannte Steve und rieb sich ungläubig die Augen.
»Das ist ja Steve.«
Ich verdrehte meine. Steve, hatte er gesagt. Ausgerechnet Steve. Zu einem miesen Typen, der einen menschlichen Körper als Aschenbecher benutzte. Manches im Leben war für mich einfach zu hoch, um es fassen zu können.
»Ja, das ist Steve«, erklärte ich ihm. »Und er wird auch noch eine Weile schlafen.«
Raver rieb seine schweißnasse Stirn blank. »Hast du das mit ihm gemacht?«
»Ich war so frei.«
Raver holte ein paarmal Luft. »Verdammte Scheiße, was hat er dir denn getan?«
»Ich verachte Leute, die andere als Mülleimer ansehen.«
»Wieso?« fragte er blöd.
»Er wollte Ginny…«
»Ach, die Nutte«, unterbrach er mich schon nach dem dritten Wort.
Scharf holte ich durch die Nase Luft. Ich mußte mich zusammenreißen, um ihm nicht das Vogelnest von seinem Kopf zu pflücken. Raver merkte, daß er zu weit gegangen war. Auf seinem Bett rutschte er in Richtung Wand und streckte mir die Hand entgegen. »Ich sage ja nichts mehr.«
»Ist auch besser so.« Mein rechter Zeigefinger wies auf den Bewußtlosen. »Wenn er wieder zu sich kommt, dann erkläre ihm, er soll sich weder bei mir noch bei Ginny blicken lassen. Beim nächstenmal werde ich wirklich wütend.«
Raver starrte mich an. Er wollte etwas sagen und hatte auch schon den Mund offen, aber er blieb still.
Vor dem Abschied tippte ich gegen seine Glatze. »Jetzt kannst du weiter deine Musik hören. Aber gib acht, daß dir von dem Lärm nicht der Restverstand aus dem Schädel gedröhnt wird.« Ich klatschte gegen seine Wange. »Wir sehen uns noch, Freak.«
Nach diesem Satz ließ ich ihn allein. So wie in der letzten halben Stunde benahm ich mich nur, wenn ich schauspielern mußte, und ich hoffte, glaubwürdig genug gewesen zu ein, auch bei Ginny. Bevor ich in mein Zimmer ging, schaute ich noch bei ihr vorbei.
Ginny blickte erst gar nicht auf. Sie hockte am Tisch, trank Schnaps aus der Flasche und heulte. Auch als ich sie ansprach, winkte sie ab. Ginny wollte allein bleiben. Den Gefallen tat ich ihr auch.
In meiner Bude hatte sich nichts verändert. Auch jetzt ließ ich mein Gepäck in Koffer und Tasche. Als ich mich auf das Bett setzte, sackte ich nicht nur ein, sondern hörte auch die Geräusche alter, überstrapazierter Sprungfedern, die ihren Geist sicherlich bald aufgaben.
Dieses Haus hatte es tatsächlich in sich. Seit meinem Einzug hatte ich schon allerlei erlebt, nur der geheimnisvolle Killer war mir noch nicht über den Weg gelaufen.
Nun ja, die Nacht lag ja noch vor mir.
Daran dachte ich, als ich das Handy hervorholte und Sukos Büronummer
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