0962 - Der Leichenflur
wollte. Zur Not mußte ich mich ihr gegenüber eben zu erkennen geben oder Suko herkommen lassen, der sie in Schutzhaft nahm.
Aber zuvor mußte mir Ginny sagen, was sie wollte. Ich war dabei, meine Beine über die Bettkante zu schwingen, als mein Blick zwangsläufig über den Fußboden streifte.
Zuerst glaubte ich an eine Täuschung. Nur als ich genauer hinschaute, klopfte mein Herz plötzlich schneller.
Auf dem Holzfußboden bewegte sich tatsächlich ein Gesicht auf das Bett und mich zu…
***
Nach einer Erklärung suchte ich erst gar nicht. Ich nahm es einfach hin.
In diesem Haus existierte ein Feind, der dabei war, sein Gebiet abzustecken. Ich sollte ihn sehen, er wollte mich in seiner Nähe spüren, so wurden Grenzen abgesteckt.
Eine Überraschung war das Erscheinen des phantomhaften Gesichts schon für mich gewesen. Gepaart mit einem leichten Schock, weil ich nicht mit einem Angriff am Tage gerechnet hatte. Selbstverständlich schössen mir die Gedanken durch den Kopf.
Woher kam es? Zu wem gehörte es? Welches verfluchte Wesen steckte in diesem Fußboden und wehte durch die Mauern?
Die Beine zog ich an und setzte mich wieder auf das Bett. Den Vorsatz, es zu verlassen, hatte ich aufgegeben. Auf meiner kleinen Insel blieb ich als Beobachterposten hocken.
Noch etwas bekam ich zu spüren. Man sagt immer, daß dort, wo Geister oder Geistwesen erscheinen, die Luft plötzlich kälter wird. Das war nicht nur Theorie. Ich hatte es selbst schon einige Male erlebt - auch hier.
Es war kälter geworden. Nicht durch die Fensterlücke. Die Kälte drang vom Boden her in die Höhe. Sie kroch auf mich zu, fand den Weg durch meine Kleidung und glitt über den Körper hinweg, wo sie eine Gänsehaut hinterließ.
Inzwischen »schwamm« das Gesicht näher. Gespenstisch und geisterhaft, aber nicht allein, denn es zog dort, wo normalerweise der Hals beginnt, etwas hinter sich her wie einen hellen Schatten, der zudem allmählich zerflatterte. Das Gebilde erinnerte mich an Fäden, die allerdings blieben und sich nicht auflösten.
Die geisterhafte Erscheinung war in ihrer normalen stofflichen Existenz früher einmal eine Frau gewesen. Noch zeichnete sich das schmale und zudem sehr jung wirkende Gesicht ab. Selbst in der feinstofflichen Form war dies nicht zu übersehen, ebenso wie die sehr langen Haare, die es umwehten.
Ein niedliches Gesicht. Weiche Züge. Alles sehr jung. Ohne Falten. Ich stellte es mir normal vor. Da konnte dieses Mädchen höchstens sechzehn oder siebzehn sein und war in einer Zwischenwelt gelandet, wo es keine Ruhe fand.
So etwas gab es. Und es waren nicht nur unbedingt irgendwelche Geschichten, die man sich erzählte, um sich gegenseitig Angst einzujagen.
Innerhalb der Bohlen wirkte es wie von dünnen Pinselstrichen gezeichnet, aber dabei scharf konturiert, denn es floß nichts in-und durcheinander. Sogar die einzelnen Haarsträhnen konnte ich unterscheiden, und die Augen malten sich ebenfalls deutlich ab.
Sie waren anders. Sehr weiß. Schon unheimlich hell. Es gab keine Pupillen, sondern nur eben das Weiße in den Öffnungen.
Totenaugen…
Auf dem Bett hockte ich mit angezogenen Knien und wartete ab. Mit einem direkten Angriff rechnete ich nicht. Der Geist war erschienen, um das Gelände zu sondieren und es abzustecken.
Ich holte mein Kreuz hervor. Dabei ließ ich die feinstoffliche Erscheinung nicht aus den Augen und bewegte mich auch nur sehr langsam.
Das Metall blieb kalt. Keine Erwärmung. Es spürte nicht die Nähe der anderen Gestalt. Beide schienen Welten voneinander getrennt zu sein, und das wunderte mich schon.
Ich beugte mich vor.
Noch schwamm die Erscheinung im Fußboden. Die hellen Augen, der offene Mund, als wäre er zum Schrei geöffnet, der nie mehr den Rachen verlassen konnte.
Dann war es vorbei. Die Erscheinung sackte weg. Nicht die Bohlen bewegten sich, auch wenn es so aussah. Es war das Gesicht, das sich auflöste und zitternd in die Maserung hineindrängte, bevor es dann in der Tiefe verschwand.
Ich war wieder allein.
Tiefes Durchatmen. Das leichte Zittern verschwand. Der Schweiß klebte auf meiner Stirn, und mit einer mühsamen Bewegung wischte ich ihn weg. Die Erscheinung hatte sich nicht lange gezeigt, vielleicht für zwei, drei Minuten, aber ich wußte jetzt, was mir bevorstand und mit wem ich es zu tun hatte.
Es war ein Geist, aber auch ein Killer?
Ja, davon mußte ich schon ausgehen. Mochte dieser Zuhälter auch noch so brutal und gefährlich sein, die vier Morde
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