0962 - Der Leichenflur
erregten meine Aufmerksamkeit.
Ich hörte sie jenseits der Flurtür im Mittelteil. Die Tür wurde aufgerissen, und ein Mann im Stechschritt huschte hindurch. Es war einer der Mieter, und es überraschte mich, als ich ihn sah. Wenn er tatsächlich hier wohnte, paßte er nach meinem Dafürhalten vom Outfit her nicht in dieses Haus.
Er trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine graue Krawatte.
In der linken Hand hielt er einen ebenfalls dunklen Hut. Die Finger der anderen Hand umspannten den Griff eines kleinen Managerkoffers.
Der Typ wirkte wie gelackt, auch weil in seinem schwarzen Haar das Gel schimmerte. Ebenso blank waren seine Schuhe.
Beide waren wir überrascht. Der Mann blieb für einen Moment stehen, dann kam er auf mich zu und schaute mich mit seinen braunen, eulenhaften Augen an.
»Darf ich fragen, wer Sie sind, Mister?«
Ich lächelte in dieses bleiche Trauergesicht. »Das dürfen Sie. Ich bin der neue Mieter. Mein Name ist John Sinclair.«
Der Knabe überlegte. »Moment mal«, sagte er dann. »Soll das heißen, daß Sie in dem Mordzimmer…?«
»Dort wohne ich.«
»Sehr mutig, sehr mutig.« Er stellte seinen schmalen Koffer ab, um die rechte Hand frei zu haben. Er reichte sie mir, und als ich eingeschlagen hatte, stellte auch er sich vor. »Ich heiße Jason Leary. Falls Sie sich über meine Kleidung wundern, das gehört zu meinem Beruf. Ich bin Prediger und werde engagiert, um Begräbnisreden zu halten. Ob in der Trauerhalle oder am Grab, ich bin dafür der richtige Mann und nicht festgelegt.«
»Was heißt das?«
»Sie können mich auch für lustigere Anlässe mieten. Hochzeiten, zum Beispiel, wobei ich nicht weiß, ob die immer lustig sind.« Er lachte meckernd, griff dann in seine Jackentasche und holte eine Visitenkarte hervor. »Wenn Sie mal jemanden wie mich brauchen, dann rufen Sie mich doch an, Mr. Sinclair.«
»Mal sehen.« Ich wollte die Karte schon nehmen, aber Jason Leary zog die Hand wieder zurück, was mich wunderte, und das sagte ich ihm auch.
»Wissen Sie, Mr. Sinclair, ich weiß nicht, ob es sich lohnt, Ihnen meine Karte zu geben. In Ihrem Zimmer hat es bereits vier Tote gegeben. Und ich befürchte, auch Sie werden nicht mehr lange leben. Also brauche ich die Karte nicht aus der Hand zu geben. Sie verstehen?«
»Klar doch, Mr. Leary.«
Er nickte mir noch einmal zu und näherte sich der Wohnung, die neben Ravers lag.
Trotz des Ernstes dieser Lage mußte ich grinsen. In dieser Baracke wohnten wirklich komische Typen. Eine derartige Mischung hatte ich noch nicht erlebt.
Jason Leary war in seinem Zimmer verschwunden, und ich setzte meinen Weg fort. Ich wollte die Baracke verlassen, weil ich unbedingt frische Luft brauchte. In diesem Bau war es doch ziemlich feucht. Ich kam mir vor wie in einem alten Knast.
Die breite Mitteltür ließ sich leicht öffnen. Ich betrat den vorderen Teil des Flurs, der wesentlich kürzer war. An der rechten Seite lag eine Tür.
Auf dem Holz prangte ein Namensschild. Mit dicken, schwarzen Buchstaben hatte sich Lisa Fox dort verewigt. Zu ihr wollte ich nicht, sondern wandte mich nach links, um die Haustür aufzustoßen.
Sie war nicht abgeschlossen. Ohne eine Stufe zu benutzen, trat ich ins Freie.
Die Luft roch schlecht. Der Hauch von Frühling hatte sich wieder verkrochen.
Wolken und Dunst wehten über die Stadt und hielten den Gestank des Industrieviertels fest. Die Kulisse zeichnete sich vor mir ab. Ich sah die hohen Bauten der Lagerhäuser, aber auch die Kräne, die ihre mächtigen Stahlskelette in den Himmel reckten. Alles in einer gewissen Entfernung, aber der Lärm des Hafens drang noch an meine Ohren.
Das Haus lag nicht in einer Straße, sondern in einer Gasse. Schlechtes Pflaster bedeckte den Boden. Nicht weit entfernt sah ich das Blechschild einer Kneipe. Kinder spielten in der Nähe Ball. Neben dem Haus war ein Grundstück frei und als wilde Müllkippe zweckentfremdet. Sicherlich ein Paradies für Ratten.
Ich ging einige Schritte zur Seite und bewegte mich an der Schmalseite der Baracke auf die Rückseite zu. Die Mauer war zwar verputzt worden, aber im Laufe der Zeit hatte der Putz doch sehr gelitten. An vielen Stellen hatte er sich gelöst wie eine alte Haut. Darunter waren die alten Ziegelsteine zum Vorschein gekommen. Sie mußten mal rot gewesen sein. Jetzt hatten sie eine bräunliche Farbe bekommen, weil sie feucht waren.
Auf dem Dach der Baracke wuchs sogar Unkraut. Es hing über den Dachrand hinweg, als wollte es
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