0966 - Die Angst der Psychonautin
Tiere. Wahrscheinlich haben sie Estelle gefoltert, aber sie wird den Mund gehalten haben, und es blieb der anderen Seite wohl nichts anderes übrig, als sie zu töten.«
»So muß es gewesen sein.«
In den folgenden Sekunden bekam Shao nichts mehr zu hören. Thamar saß unbeweglich am Tisch und schaute ins Leere. Aber ihr Gesicht nahm einen harten und entschlossenen Zug an, und plötzlich bewegte sich etwas dicht hinter ihrer Stirn. So etwas wie ein langgezogenes und an den Seiten abgerundetes Dreieck entstand, das dritte Auge.
Noch blieb es ziemlich blaß, aber Shao wußte, daß es sich auch füllen konnte.
So sehr sie das fremde Auge faszinierte, eines allerdings traf genau zu.
Es entstellte das Gesicht der jungen Frau, denn die anderen beiden Augen fielen kaum auf. Sie waren regelrecht in den Hintergrund getreten.
Thamar erhob sich. Sie tat es wie jemand, der wild entschlossen war, eine gewisse Sache endlich in Ordnung zu bringen, und das ließ bei Shao kein gutes Gefühl zurück.
»Was hast du vor?« flüsterte sie.
»Das wirst du schon sehen!« Thamar drehte sich um.
»Bitte, mach jetzt keinen Unsinn! Laß uns das gemeinsam überlegen. Es ist besser so.«
»Das glaube ich nicht.«
Shao wußte nicht, was Thamar genau vor hatte. Sie glaubte allerdings nicht, daß es sehr günstig für beide war. Deshalb lief sie hinter ihr her und legte ihr die rechte Hand auf die Schulter. »Bitte, Thamar…«
»Laß mich!« Sie war nicht mehr zu halten und stand jetzt direkt vor dem Computer.
Shao rechnete damit, daß sie weitergehen und die Wohnung verlassen würde. Das tat Thamar nicht. Plötzlich drehte sie sich nach links, der Computer schien sie wie ein Magnet anzuziehen, und einen Moment später saß sie vor ihm.
Shao blieb hinter ihr. »Was hast du vor?«
»Ich werde die vier Männer töten!« Nach diesen Worten leuchtete ihr Auge noch stärker…
***
Harry Stahl kehrte an seinen Platz zurück, wo Dagmar Hansen noch immer am Tisch saß, die Beine übereinander geschlagen hatte und hochschaute, als sie ihren Kollegen sah. »Wenn ich mir dein Gesicht betrachte, hast du etwas erreicht.«
Stahl nahm Platz. »Das Telefonat hat sich gelohnt«, erklärte er nickend.
»Was sagte Sinclair?«
»Nicht viel. Aber was er mir erzählte, traf ins Schwarze. Er hat das gleiche Phänomen erlebt wie wir.«
»Moment. Wie ist das möglich?«
»In London wurde ebenfalls eine Frau mit einem dritten Auge auf der Stirn entdeckt.« Harry hatte leise gesprochen. Er wollte nicht, daß die beiden Frauen am Nebentisch etwas verstanden. Sie hatten einen Ortswechsel vorgenommen und saßen in einem gemütlichen Café in der Innenstadt. Von einer Zelle aus hatte Harry telefoniert.
»War sie auch tot?«
»Nein, sie lebte. Man hat sie auf einem Schiff gefangengehalten. Von dort wurde sie befreit.«
»Kennst du ihren Namen?«
»Den hat mir Suko genannt.«
»Wieso Suko?« Dagmar war plötzlich nervös, worüber sich Harry schon wunderte.
»Ich habe nur mit ihm gesprochen. Es spielt wirklich keine Rolle, mit wem ich da geredet habe.«
»Schön, dann mach weiter.«
Harry trank von seinem Wasser. Er berichtete Einzelheiten, und Dagmar hörte sehr genau zu. Schließlich rückte sie mit einer Frage heraus, und Harry hörte sehr wohl den seltsamen Unterton in ihrer Stimme. »Hat man dir auch den Namen mitgeteilt?«
»Ja, sie hieß oder heißt Thamar.«
Dagmar Hansen gab keine Antwort. Nur ihr Gesicht zeigte einen harten Glanz. Dann strich sie durch das rote Haar. Harry glaubte sogar, es knistern zu hören. Sie schaute ihren Kollegen nicht an, sondern blickte starr auf den runden Tisch zwischen ihnen.
»Was ist denn los mit dir?« Die beiden waren mittlerweile vertrauter geworden.
»Nichts.«
»Doch, du hast doch was.« Dagmar hob die Schultern. »Ja, irgendwie schon. Es kommt da einiges zusammen. Die Dinge verdichten sich.«
»Wie meinst du das?«
»Die Frauen werden gejagt. Erst Estelle, die man getötet hat, dann wollten sie Thamar töten, und es wird weitergehen, weil die Frauen ihnen in die Quere gekommen sind.«
»Moment.« Harry tippte gegen seine Schläfe. »Da muß ich mal querdenken. Suko hat von vier Killern gesprochen.«
»Die gehören dazu.«
»Zu wem?«
»Geheimdienst, Harry. Ein amerikanischer. Der mächtigste von allen. Ich hatte es mir gedacht.«
Stahl preßte seinen Rücken gegen die Lehne, als er aufstöhnte. »Wenn ich dich so reden höre, komme ich mir vor wie ein Schüler, der seine Lehrerin bewundert,
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