0968 - Die Greise von Eden
es?«
Er nickte aufgeregt.
»Kannst du der Fährte mit dem Wagen folgen?«
»Ich werde es versuchen.«
Die Sonne hatte ihren Zenit bereits überschritten, als sie das Ende der Spur erreichten.
Aber es war eine Sonne, die keinen Schatten warf.
***
Paul fiel tot in den Sand, kaum dass er dem Van entstiegen war.
»Daran werde ich mich so schnell nicht gewöhnen«, sagte Nele. »Sind schon wieder drei Stunden um?«
Bayan nickte geistesabwesend. Er stand neben der Stelle, wo die kindlichen Fußabdrücke im Sandboden endeten.
Es sah aus, als hätten sich die vermissten Söhne der Saleh-Brüder alle an demselben Punkt entweder in Nichts aufgelöst - oder in die Lüfte erhoben.
Bayan Saleh wusste aber definitiv, dass sein Sohn keine Flügel hatte. Weder er noch seine beiden Cousins.
»Was ist hier passiert?«, dachte er laut nach.
Nele stand bei Paul. Sie hatte kurz seinen Puls gesucht und bestätigt gefunden, dass er tatsächlich wieder in den Scheintod-Zustand verfallen war. Jetzt wartete sie darauf, dass er sich wieder aufrappelte.
Schließlich erhob er sich wieder und klopfte sich benommen den Schmutz von der Kleidung.
»Sorry«, sagte er.
»Wie ist das Sterben?«, fragte sie.
»Ganz okay.«
Sie schnitt eine Grimasse.
»Ich bin dann mal weg«, sagte sie. »Ich muss etwas ausprobieren.«
Sie wechselte auf ein anderes Daseins-Niveau.
An Pauls Miene war abzulesen, dass sie aus seiner Wahrnehmung verschwunden war. Bei Bayan war sie sich nicht sicher, aber er achtete scheinbar auch nicht auf sie. Nele ging dicht an dem Jordanier vorbei, um zu der Stelle zu gelangen, wo die Spur der Kinderfüße endete.
Zu ihrer Verblüffung bemerkte sie dort, wo bei Normalsicht nichts gewesen war, ein seltsames Phänomen: ein Leuchten, das wie ein von widernatürlichen Kräften begradigter und stabilisierter Blitz aussah. Ein Balken aus purer Energie, der sich in den Himmel erstreckte, so weit das Auge reichte.
Nele kehrte auf das Wirklichkeits-Level zurück, in das sie gehörte.
»Hast du etwas entdeckt?«, empfing Paul sie.
Sie nickte.
»Und was?«
»Ich bin mir nicht sicher. Nicht hundertprozentig.«
Bayan trat zu ihnen. »Da ist etwas«, sagte er. »Ich kann es spüren.«
»Auch sehen?«, fragte Nele.
Er schüttelte den Kopf. Seine nächste Frage verriet, dass ihr kurzzeitiges Verschwinden doch von ihm bemerkt worden war.
»Hast du etwas über ihren Verbleib herausgefunden?«
»Möglicherweise.« Sie beschrieb, was sie im »Ghost-Modus« zu sehen vermochte. »So ähnlich hat mir Nikolaus einst das Tor nach Eden beschrieben«, sagte sie.
***
Sie fragte sich, was geschehen wäre, hätte sie den Mut aufgebracht, sich der Energiesäule nicht nur zu nähern, sondern sie zu durchschreiten.
Falls ich sie durchschreiten könnte , dachte sie. Dafür gibt es keine Gewähr. Nikolaus konnte es. Zweimal sind verbürgt - einmal hinein und einmal wieder hinaus.
Sie hatte keinen stichhaltigen Beweis, dass er es auch ein drittes und schon gar nicht viertes Mal geschafft hatte. Obwohl die kleine Stadt Al Karak noch seine einstige Anwesenheit zu atmen schien. Der Eindruck, den Nikolaus vor vielen Hundert Jahren hinterlassen hatte, war für Nele verstörend stark. Und nun, nachdem sie die Stelle identifiziert zu haben glaubte, an der er seinerzeit von einer Welt in die andere gewechselt war, in eine Art Mikrokosmos (so stellte sie sich Eden vor), war es ihr fast unmöglich, der Sehnsucht zu widerstehen, auch noch den letzten Schritt zu wagen. Den Schritt, der - vielleicht - eine Antwort auf das ungeklärte Schicksal von Nikolaus hätte geben können.
Eden.
War dieser Ort tatsächlich real? Und wenn ja, wie sah er aus, wie war er beschaffen? Das verlorene Paradies…
»Eden«, sagte in diesem Moment auch Bayan Saleh. »Ich will deinen Glauben nicht verunglimpfen, aber Eden… wovon , bei Ta'ala redest du? Ich war bislang geneigt, dir das Unmögliche, dass du schon im 13. Jahrhundert lebtest, zu glauben. Dass du nach jemandem aus jener Zeit suchst, der dir am Herzen lag und liegt - Nikolaus sein Name. Aber jetzt bringst du Dinge ins Spiel, die mit meinem Glauben nicht vereinbar sind. Es gibt Ta'ala - Allah, wie ihr ihn nennt - und es gibt den Propheten Mohammed. Ich bin gebildet und belesen, natürlich weiß ich, was du mit dem Begriff ›Eden‹ verbindest. Aber zu denken, es gäbe einen solch sagenhaften Ort…«
Nele brachte seinen Redefluss zum Stoppen. »Du kannst deine Augen nicht vor den Fakten verschließen«,
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