0968 - Die Greise von Eden
kennengelernt.«
»Wer dann? Freunde, Bekannte, die Trost spenden wollen? Ich sehe jedenfalls nirgends den Jungen, der vor unseren Augen gekidnappt wurde - oder einen anderen in seinem Alter.«
»Sieht es nicht eher aus, als würden die Mütter den Greisen Trost zu spenden versuchen - unbeholfen, weil sie völlig schockiert sind?«
Endlich schien es auch ihm zu dämmern. Er sah sie aus großen Augen an, schüttelte dann vehement den Kopf. »Das kann nicht sein! Wie sollte -«
»Das weiß ich nicht. Aber sieh sie dir an!«
Sie beobachtete, wie Bayan neben seiner Frau Liwa niederkniete und die Arme sowohl um sie, als auch den Greis bei ihr, legte. Sekundenlang verharrten sie alle in dieser Haltung.
Bei den beiden anderen Greisen waren nun auch Wafa und Zalay zu sehen. Ihnen fiel es sichtlich schwerer, sich auf die Greise einzulassen, ihnen ungebrochene Liebe und Zuneigung zu zeigen. Nele fand ihren Verdacht in den Gesprächen der Eltern mit ihren »Kindern« ebenso, wie im Verhalten der Familien bestätigt. Über der grotesken Zusammenführung lag eine Atmosphäre unterschwelligen Entsetzens.
Plötzlich und synchron begannen die Greise zu sprechen - zu flüstern, in die Ohren ihrer Väter, die sie an ihre Lippen heranwinkten.
Bayan und seine Brüder erstarrten.
Schließlich löste sich Bayan von Frau und »Kind« und trat mit stockenden Bewegungen zu Nele und Paul.
»Ihr seht, was der Engel aus ihnen gemacht hat - sie erinnern sich kaum noch an uns, aber wir erkennen sie intuitiv.«
»Vielleicht irrt ihr euch. Ihre Hände - sie tragen keine Handschuhe mehr, und von dem Stigma, das den männlichen Mitgliedern eurer Familie anhaftet, ist nicht das Geringste zu erkennen«, setzte Nele an.
Er schüttelte den Kopf. »Sie sind es - und sie haben eine Botschaft mitgebracht, ein letztes Ultimatum. Wir haben Zeit bis Mitternacht, das Artefakt auszuhändigen. Sonst passiert etwas noch Schrecklicheres als das, was schon geschehen ist . Diesmal wird es die ganze Stadt treffen, lässt uns der Geflügelte wissen! Er erwartet uns vor der Moschee.«
»Aber ihr seid doch gar nicht in der Lage, die Truhe eures Vorfahren, in der das brennende Schwert ruht, zu öffnen!«
Bayan nickte. »Eben. Aber vielleicht ist es unsere Chance, den Schrecken vor Ort zu stoppen. Mit vereinten Kräften - Wafa, Zalay, ich und… du?«
Nele schauderte. Aber sie wusste, dass der Engel ihre persönliche Verbindung zu Nikolaus war. Vielleicht war es möglich, ihm etwas über das Damals und die Zusammenhänge zu entlocken.
»Notfalls werden wir uns opfern müssen«, hörte sie Bayan noch sagen, »um ihn zu bezwingen. Bist du dazu bereit?«
»Das werden wir sehen, wenn es soweit ist.«
***
Es war soweit.
Nele blickte zum sternenlosen Firmament empor, vor das sich eine gigantische, alles filternde Schwinge gelegt zu haben schien.
»Er kommt«, flüsterte sie. »Ich fühle ihn - ihr auch?«
Die Salehs entledigten sich ihrer Handschuhe. Die flammenden Hände entrissen ihre Gesichter der Finsternis. Nele erkannte, dass sie tatsächlich bereit waren, ihr Leben für die künftige Sicherheit der Stadt und ihrer Angehörigen zu opfern - und zugleich auch Vergeltung zu üben für das, was ihren Söhnen bereits angetan worden war.
»Ja«, sagte Bayan…
... als aus dem dunklen Himmel auch schon etwas herabstieß und mit einer Wucht, als wäre es tonnenschwer, seine Füße in den Boden vor der Moschee rammte.
Ein sturmstarker Windstoß zerrte an Nele und den Salehs, aber sie hielten den Böen stand, die von den zeitlupenartig peitschenden Flügeln des Geschöpfs entfacht wurden, das…
In diesem Moment wurde es Nele vollends bewusst.
... das selbst ein Opfer war.
Das androgyne Wesen sah im Licht des Feuers, das den Saleh-Händen entsprang, aus wie pestzerfressen - es war von Kopf bis Fuß von Beulen, Geschwüren und Schorf überwuchert. Selbst die federlosen, ledrigen Schwingen krankten daran. An manchen Stellen schien das Wesen sogar aus nicht heilenden Wunden zu bluten. Doch das quecksilbrige Blut tropfte nicht zu Boden und rann auch nur ein paar Zentimeter über die geschundene Haut, dann wurde es von den Poren wieder aufgesogen. Vielleicht blutete es seit damals, als es in die Falle gelockt und in einen Kerker gezwungen worden war, der jahrhundertelang seinen Zweck erfüllt hatte.
»Was hast du unseren Söhnen angetan?«, grollte Bayan das Wesen an. »Dafür wirst du bezahlen, du Monster!«
»Das Schwert! Gebt mir, was mein
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