0973 - Das verfluchte Volk
erst recht angespornt. Sie konnte jeden zum Reden bringen. Die Paula, die seit einigen Monaten ihren Platz eingenommen hat, begnügt sich dagegen damit, lächerliche Strichmännchen zu malen und in ihre Kaffeetasse zu heulen. Sie wollen nicht mit mir reden. Dann bring sie gefälligst dazu! Oder schwing deinen Arsch hier raus und such dir einen anderen Job!«
Paula wollte wütend widersprechen. Ihren Chef daran erinnern, dass er es gewesen war, der zusammengebrochen war, als das Militär nach ihr gesucht hatte. Dass er sie aus Angst um seine eigene bürgerliche Existenz in eine Falle hatte laufen lassen wollen, als sie ihn um Hilfe gebeten hatte. Doch dann ließ sie es bleiben und sackte nur seufzend in sich zusammen. Luis hatte ja recht. Sie versuchte, weiterzumachen, als sei nichts geschehen. Doch ein Teil von ihr war nie aus dem Dschungel zurückgekehrt.
»Ich gebe die Geschichte an Jaime weiter«, sagte Luis. »Und dir rate ich dringend, zwei Wochen Urlaub zu nehmen, damit du wieder zu dir kommst. Die nächste Story, die du versemmelst, ist deine letzte.«
Missmutig stapfte der Chefredakteur aus dem Großraumbüro und warf die Tür seines protzigen Büros zu. Paula spürte die brennenden Blicke ihrer Kollegen im Nacken. Selbst Luis wusste nur andeutungsweise, was in Amazonien geschehen war, und sie hatte deutlich gespürt, dass er mehr auch gar nicht wissen wollte.
Offiziell war Kolumbien eine Demokratie, doch in der Liste der Staaten mit den meisten Menschenrechtsverletzungen tauchte das südamerikanische Land immer ganz weit oben auf. La Voz war eine der wenigen Zeitungen, die ungeachtet aller Repressalien jeden Tag aufs Neue mutig die Fahne des unbestechlichen Journalismus hochhielten. Doch was im kaum besiedelten Grenzgebiet der Departamentos Caquetá, Amazonas und Vaupés vor sich ging, war so brisant, dass selbst gestandene Enthüllungsjournalisten lieber wegsahen.
Bis auf Paula Vásquez.
Begonnen hatte es damit, dass das Militär ein über 2000 Quadratkilometer großes Areal komplett abgeriegelt hatte. Angeblich hatte es einen Störfall in einem bisher geheim gehaltenen Forschungsreaktor gegeben. Doch Paula und ihr Fotograf Fernando Gonzales hatten in der eilig errichteten Militärbasis am Rand der abgeriegelten Zone Beweise für das gefunden, was die Regierung wirklich vor der Öffentlichkeit geheim halten wollte.
Dämonen.
Der äußere Bereich des Krisengebiets, die sogenannte Todeszone, war äußerlich vom normalen Dschungel kaum zu unterscheiden. Aber jedes tierische Leben hatte panisch die Flucht ergriffen. Dafür existierten hier nun andere Wesen, monströse Kreaturen, deren bloße Existenz Paulas bisher äußerst rationales Weltbild von Grund auf erschüttert hatte. Im eigentlichen Kernbereich der Anomalie, der Sphäre, schienen dagegen alle Naturgesetze außer Kraft gesetzt zu sein. Er wurde beherrscht von einem lebendigen schwarzen See, der selbst eine Atombombenexplosion unbeschadet überstanden hatte - und dadurch sogar noch stärker gewordenwar.
Paula Vásquez war es gelungen, den französischen Parapsychologen Professor Zamorra und dessen Partnerin Nicole Duval über die unheimlichen Vorgänge im Dschungel zu informieren. Doch Fernando hatte ihre Undercover-Recherche nicht überlebt, und auch sie selbst wäre beinahe gestorben. Erst hatte der geheimnisvolle CIA-Agent Richard Devaine ihre Exekution befohlen, und dann hatte der größenwahnsinnige Zuckerbaron Antonio Álvarez sie zur Belustigung seiner Untergebenen einem Insektenmonster aus der Todeszone zum Fraß vorgeworfen. Paula zitterte am ganzen Leib, wenn sie nur daran dachte.
Und jetzt saß sie hier an ihrem alten, zerkratzten Schreibtisch in Bogotá und sollte über Callgirls und korrupte Banker schreiben.
Undenkbar!
Luis Ortega hatte sehr deutlich gemacht, dass er über das, was in Amazonien vor sich ging, nichts in seinem Blatt lesen wollte. Die Drohungen der Militärs, die nach Paulas Flucht in seinem Büro aufgetaucht waren, mussten sehr eindrücklich gewesen sein.
Doch darauf konnte Paula keine Rücksicht nehmen. Sie war nicht Journalistin geworden, um klein beizugeben, wenn es wenig brenzlig wurde.
Entschlossen packte Paula ihren klatschnassen Notizblock und beförderte ihn in den Papierkorb. Es war Zeit für ein kleines Nebenprojekt.
***
Militärbasis am Rand der Todeszone
»Immer noch keine besonderen Vorkommnisse, Dick?«
»Wenn es noch ruhiger wird, fange ich an zu stricken.« Richard Devaine verzog seine
Weitere Kostenlose Bücher