0977 - Liliths grausame Falle
steckte. Auf der einen Seite war sie entsetzt, auf der anderen aber wußte sie plötzlich, daß der Zeitpunkt gekommen war, auf den sie so lange gewartet hatte. Sie bewegte sich jetzt schnell. Öffnete die Tür, lauschte und hörte ihren Vater nicht mehr.
Das war gut.
Sie wartete noch.
Kein Geräusch hallte durch die große Wohnung. So ähnlich hatte sich Charlotte die Dinge auch vorgestellt. Alles lief genau nach Plan. Der angekündigte Besuch hatte bei ihr auch die letzte Hemmung weggespült. Aus dem Kleiderschrank holte sie ihre Jacke. Sie steckte das letzte Geld ein und zog die dicken Turnschuhe an. Aus der Hosentasche holte sie die flache Schachtel mit den Streichhölzern.
Sie schaute auf die Puppen.
Plötzlich mußte sie weinen. Um sie tat es Charlotte leid, aber es gab keine andere Möglichkeit, der Hölle zu entfliehen. Die Vorhänge am Fenster würden brennen, das wußte sie.
Sie blieb dicht davor stehen. Wenig später ratschte der Zündkopf über die rauhe Fläche.
Der Geruch der Gase stieg ihr in die Nase, die Flamme fand Nahrung, und Charlotte bückte sich. Es war so einfach. Sie mußte die Flamme nur an den Stoff halten, dann würde sie von allein in die Höhe flackern und ihn zu einer brennenden Fahne machen.
Ihre Hände zitterten, als das Streichholz verlosch. Der erste Versuch war fehlgeschlagen.
Es folgte der zweite.
Und diesmal klappte es. Die Stoffstelle war schon heiß und angekokelt. Plötzlich hatte das Feuer freie Bahn, und es blieb auch nicht nur eine kleine Flamme, sie sprang förmlich mit einem leisen und fauchenden Laut in die Höhe.
Es brennt, es brennt! In Charlotte jubelten fremde Stimmen. Sie drehte sich auf dem Fleck, und dann tanzte sie weg vom Fenster und in den Raum hinein.
Plötzlich kam sie sich vor wie ein Engel, dem Flügel gewachsen waren. Sie eilte auf die Tür zu und riß sie auf. Da auch die Tür des Bads nicht geschlossen war und dort ebenfalls ein Fenster offenstand, herrschte plötzlich ein gewaltiger Durchzug, der wie ein Stoß in ihrem Raum hineinfuhr und die Flamme noch mehr anfachte.
Rauch hüllte die Zimmerhälfte ein. Brennende Fetzen segelten zu Boden oder auf die Couch herab, wo sie wieder neue Nahrung fanden. Dort setzten sie auch die Kleidung der Puppen in Brand, deren Körper in der Hitze sofort zusammenschmolzen.
Sie rannte weg. Hustend und würgend. Ihr Herz schlug rasend schnell. Sie mußte aus der Wohnung fliehen. Das würde ihr auch gelingen, denn sie hatte sich einen entsprechenden Schlüssel besorgen können. Heimlich, ohne daß ihr Stiefvater etwas davon bemerkt hätte. Selbst die Mutter wußte nicht Bescheid. Sie war tagsüber immer auf der Arbeit. Da schuftete sie in einem Großmarkt.
Wie immer hatte der Stiefvater die Tür abgeschlossen. Diesmal war es kein Problem für sie. Nicht mal die Hand zitterte, als Charlotte das Schloß überwand.
Das war die Chance!
Die Freiheit lockte, aber Charlotte ließ sich Zeit und warf noch einen Blick zurück. Viel konnte sie nicht sehen. Aus der offenen Zimmertür quoll der dicke Rauch in gewaltigen Wolken, als hätte ein Monster kraftvoll ausgeatmet.
Die Bahn war frei.
Charlotte stürmte in das Treppenhaus. Sie rannte wie eine aufgedrehte Puppe die Stufen der Steintreppe hinunter. Sie schaute nicht zurück. Die Beine bewegten sich automatisch. Trittsicher fanden die Füße immer den richtigen Halt.
Rennen, flüchten. Nie mehr zurückkehren.
Noch hatte kein anderer Bewohner das Feuer bemerkt. Charlotte erreichte die Haustür. Hart wurde sie von ihr aufgerissen - und sie prallte gegen eine Mieterin, die vom Einkauf zurückkehrte. Beinahe hätte sie die alte Frau noch zu Boden gestoßen, aber Charlotte lief weiter. Sie floh vor dem Feuer und ihrer fürchterlichen Kindheit.
Hinein in das neue Leben…
***
Wieder war ein Teil des großangelegten Traums vorbei, und Charlotte erwachte. Diesmal jedoch mit einem Lächeln auf den Lippen. Das Feuer war immer wieder eine Befreiung für sie. Später hatte sie erfahren, daß das große Haus nicht ganz abgebrannt, sondern nur in der oberen Hälfte zerstört worden war.
Ihre Wohnung.
Ihre Folterkammer.
Das allein zählte.
Sie atmete tief aus und griff nach dem leichten Morgenmantel, den sie überstreifte.
Dann schritt sie auf die Tür der Hütte zu, zog sie auf und schaute hinein in die Nacht, die ein leichter Wind hatte kühl werden lassen. Es war eine klare Nacht, auch wenn der Himmel durch eine dicke Schicht aus Wolken bedeckt war. Kein Dunst, kein
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