0977 - Liliths grausame Falle
Nebel, und Charlotte ging zu ihrem Brunnen.
Beide Hände stemmte sie auf die mit weichem Moos bewachsene Kante, als sie den Oberkörper vorbeugte und in die Tiefe schaute, als gäbe es dort etwas Besonderes zu entdecken.
Nur der finstere Schacht tat sich vor ihr auf. Für einige war er zur Todesfalle geworden, aber die Dunkelheit verschluckte alles. Charlotte sah den Grund nicht. Trotzdem war er für sie so etwas wie ein dunkler Spiegel, der wieder die Erinnerungen in die Höhe schickte.
Diesmal träumte sie ihre Vergangenheit nicht. Jetzt holte Charlotte sie bewußt zurück, denn die Zeit nach dem Brand war für sie eine sehr wichtige gewesen.
Da hatte sie als junges Mädchen, eigentlich noch ein Kind, ihr Leben neu ordnen müssen.
Das war auch geschehen.
Sie hatte sich einer Bande angeschlossen und war jahrelang mit der Clique herumgestromert. Dabei war sie zu einem wichtigen Mitglied geworden. Dank ihres Aussehens flößte sie Vertrauen ein. Daß dieses Vertrauen mißbraucht wurde, erfuhren die Bestohlenen und Betrogenen immer erst dann, wenn Charlotte nicht mehr in der Nähe war.
Sie hatte sich gut gefühlt. Jeder war für den anderen da. Sie hatten von ihren Raubzügen toll leben können, aber sie hatten es auch übertrieben.
Irgendwann war ihnen die Polizei auf die Spur gekommen. Ihre Freunde wurden verhaftet, nur sie war entkommen. Weggelaufen und von nun an auf sich allein gestellt.
Irgendwann war sie auf den Strich gegangen und sie war zu einem Geheimtip geworden, allerdings nicht in London. Dorthin kehrte sie erst später zurück - und arbeitete im selben Gewerbe.
Aber der Haß brannte weiter.
Der Haß auf Männer, die zu ihren Kunden oder Gästen geworden waren. Sie haßte diese Typen mit schon erschreckender Inbrunst, und sie dachte immer wieder an Mord.
Sie tat es nicht, doch sie wußte, daß ihr Leben noch einen Kick bekommen mußte, denn das konnte es doch nicht gewesen sein.
Jemand gab ihr einen Tip. Geheimnisvoll, nur für Frauen. Und diese Spur führte in die Hexen-Disco und damit zu Lilith.
Schon beim ersten Kontakt mit dem gewaltigen Gesicht innerhalb der Glasfläche hatte Charlotte gewußt, daß von nun an alles anders werden würde.
Durch die mächtige Dämonin hatte ihr Dasein den anderen, den richtigen Sinn bekommen, und sie begab sich voll und ganz in deren Hand. Lilith war wie eine Klammer, die sie nicht mehr loslassen wollte. Und Charlotte wußte dies. Sie gab sich hin, sie wurde ihre Vertraute. Sie bekam Kontakt, sie sprach mit Lilith, die ihr riet, den alten Haß abzubauen durch eben die Taten, um die sich Charlottes Gedanken schon des öfteren gedreht hatten.
So wurde sie zur Mörderin und führte auch das entsprechende Doppelleben, denn nur Lilith und sie wußten, wohin sie sich in der Zwischenzeit zurückgezogen hatte.
Auch hier empfing sie ihre Kunden.
Sie kamen und starben!
So war es vorgesehen, so würde es weitergeführt, und die Leichen sollten sich aufhäufen.
Charlotte lächelte bissig, als sie daran dachte, denn der Brunnen war tief genug. Er konnte noch jede Menge Nachschub vertragen und würde ihn auch bekommen.
Lilith beschützte sie. Lilith war die Person in ihrem Leben, auf die sie gehofft und gewartet hatte.
Nichts mehr lief ohne sie. Zum Glück hatte sie ihre Fittiche über Charlotte ausgebreitet.
Bis heute.
Nun aber hatte dieser Schutz Risse oder Löcher bekommen, und das gefiel ihr gar nicht.
Wer ihr auf der Spur war, konnte sie nicht sagen. Dieser Stevens hatte es versucht. Er lag jetzt auf dem Grund des Brunnens. Aber es würden andere folgen. Nie zuvor brauchte sie Liliths Schutz dringender als jetzt, das stand fest.
Charlotte drehte sich vom Brunnen weg und ging wieder zurück zu ihrem Haus.
Sie fror. Von innen her stieg eine Kälte hoch, die ihr nicht gefiel. Diese Nacht war für sie gelaufen, aber sie fürchtete sich vor der nächsten.
Sie würde entscheidend sein…
***
Jane Collins konnte es noch immer nicht fassen, das Gesicht dieser uralten Dämonin in der Glasplatte der Tanzfläche zu sehen. Das war etwas Ungeheuerliches, denn es sah so echt aus, als hätte man es eingeschlossen und um ein Vielfaches vergrößert.
Sie kam damit nicht zurecht. Sie konnte auch nichts sagen, nicht reagieren, sie war auf der Stelle festgefroren und hatte den Blick für ihre Umgebung verloren.
In der Fremde stehen.
Angriffe erleben.
Sich vor einer Weiche des Schicksals aufhalten. Aber das war nicht alles, denn das Gesicht in der Glasplatte hatte
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