0980 - Die Rächerin
Wände zu beiden Seiten. Shao sah, dass sie durch einen Gang fuhr, der sehr eng war. Die Blitze an den Seiten hellten ihn auf, und sie erkannte in den Wänden schemenhafte Gesichter, als hätten dort die Toten ihre Abdrücke hinterlassen. Sie hörte auch wieder das Schreien und Wehklagen. Dann zuckte sie zusammen, als etwas über ihre Stirn hinwegglitt. Wie ein feuchter Kuss kam es ihr vor.
Der Wagen setzte seine Höllenfahrt fort. Ein Sarg öffnete sich. Die Totengestalt, die Shao daraus zuwinkte, war halb verwest und hatte rote Augen. Lächerlich. Der nächste Schrecken lauerte bereits. Es war das übliche Skelett. Es wehte aus der Finsternis der Decke zu ihr herab. Auf ihrem Kopf hinterließ es einen kalten Luftstrom.
Bisher war sie ziemlich schnell gefahren. Das änderte sich. Der Wagen wurde abgebremst. Es ging nun in einen Kreisel hinein.
Dreihundertsechzig Grad. Nach jeder Vierteldrehung erschien eine neue Gestalt.
Zuerst war es der Mann, der seinen Kopf unter dem rechten Arm trug, dann erschien ein Vampir mit blutverschmiertem Gesicht, dessen linkes Auge heraushing. Als nächstes tauchte ein Werwolf auf, der fürchterlich brüllte, und zuletzt öffnete sich eine Tür, aus der künstlicher Nebel quoll. Aus einem Raum, in dem das Licht türkisfarben leuchtete. Es traf auf in der Luft schwebende Kristalle, so dass diese in dem Nebel wie Sterne funkelten.
Der Wagen fuhr in den Nebel hinein.
Damit hatte Shao nicht gerechnet. Sie verkrampfte sich ein wenig und spürte, wie die innere Spannung stieg.
Bisher war sie recht locker gewesen. Die äußeren Umstände hatten sie sogar den eigentlichen Grund der Fahrt vergessen lassen. Dass sie sich nun wieder daran erinnerte, ließ darauf schließen, wie nahe sie ihrem eigentlichen Ziel war.
Der Nebel lichtete sich. Sie hatte freie Sicht und war überrascht, sich in einem großen Gewölbe zu befinden, dessen »Größe« allerdings nur durch raffiniert zueinander gestellte Spiegel erreicht wurde. Shao sah den Wagen ihres Vordermanns zwischen zwei Spiegeln verschwinden. Dann war sie allein und konnte sich umschauen.
Keine Dunkelheit mehr. Eine künstliche orientalische Welt war hier geschaffen worden. Sie kam sich vor wie in einem Harem. Kissen, Polster, Bänke, sanfte Musik und zahlreiche Frauen, die ihre Gesichter hinter Schleiern versteckt hielten.
Das gefiel Shao nicht.
Einige der Frauen bewegten sich.
Die waren echt, keine Puppen, wobei Shao auf eine von ihnen zufuhr. Sie konnte hinter den Schleier blicken und entdeckte dort ein halb verfaultes Gesicht.
Das lenkte sie von einer anderen Person ab, die plötzlich wie vom Blitz geschleudert neben ihr auftauchte.
Sie trug ein Schwert und hielt es mit beiden Händen. Bekleidet war sie mit einem dünnen Kettenkleid, das an vielen Stellen durchsichtig war und einiges von der nackten Haut freigab. Sie lachte.
Und wie sie es tat, das erinnerte Shao an eine wilde Katze, die lange genug auf ihr Opfer gewartet hatte. Aus dem Augenwinkel bekam sie mit, wie sich andere Gestalten in dem Gewölbe bewegten.
Sie wollte sich wehren, und obwohl der kleine Wagen noch immer fuhr, stemmte sich Shao hoch.
»Ich bin Ornella, Shimadas Rächerin!« gellte die Stimme der Frau in ihre Ohren.
Der Wagen fuhr noch immer. Shao wollte die Beretta hervorreißen. Das schlug Ornella mit dem Schwert zu!
Jetzt bin ich tot. Jetzt ist der Kopf weg! Abgehackt. So wie John hingerichtet werden sollte.
Flüchtige und doch schreckliche Gedanken wischten durch ihr Gehirn, angepeitscht durch den plötzlichem Stoß der Todesangst.
Die Chinesin wurde tatsächlich getroffen. Aber Ornella hatte die Schwertklinge noch in der Bewegung, gedreht und deshalb nur mit der flachen Seite getroffen.
Shao fiel aus dem Wagen. Ihr Kopf zerriss, sie fühlte sich selbst wie atomisiert, in alle Einzelteile aufgelöst, und sie drehte sich während des Falls nach rechts. So schlug sie auf.
Noch einmal tanzten Sterne vor ihren Augen, dann aber kam die Dunkelheit und verschlang alles. Auch Shao wurde in die Tiefe gerissen, aber sie hörte noch eine Stimme. »Jetzt haben wir sie endlich!«
Der leere Wagen aber rollte weiter…
***
»Liebst du Geisterbahnen?« fragte Suko.
»Wieso? Muss ich das?«
»Weil man dich doch den Geisterjäger nennt.«
Mein Grinsen fiel etwas säuerlich aus. »Sorry, aber deinem Humor kann ich heute nicht folgen.«
»Ich auch nicht«, seufzte Suko. »Ich verstehe ihn selbst nicht. Ich hänge den Humor an den Galgen. Es ist wegen Shao. Ich
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