0980 - Die Rächerin
schon daran, wie es wohl enden würde.
Dieser Gedanke machte ihr wohl so viel zu schaffen, dass die Welt um sie herum wieder in einem lichtlosen Trichter versank, aus dem sie erst erwachte, als sie die leichten Schläge spürte, die beide Wangen in einem bestimmten Rhythmus trafen.
Das half. Shao tauchte aus ihrer dunklen Welt auf. Sie erlebte die ersten Farben, zwar noch düster, aber unterscheidbar.
Ein Gesicht sah sie auch. Anfangs war es nur ein verschwommener Fleck, wie eine Halluzination, doch das Gesicht bekam Konturen und wurde zu einer fremden Frau, die von einer weichen Glocke aus Licht umschmeichelt wurde.
Shao hörte sogar Geräusche. Ein fernes Schreien und Lachen. Beides hatte mit der Frau nichts zu tun. Spukartig wirbelte für einen Moment der Begriff Geisterbahn durch ihren Kopf, dann lenkte sie die Stimme der Fremden ab.
»Jetzt haben wir dich!«
Dunkel erinnerte sich Shao daran, die Worte schon einmal gehört zu haben. Sie konnten ihren Optimismus auf keinen Fall stärken. Sie klangen so, wie sie gemeint waren.
Shao bewegte ihre Augendeckel. Das fremde Gesicht verschwand nicht. Es blieb in ihrer Nähe. So fremd war es ihr jedoch nicht. Wenn sie nur nicht im Kopf so durcheinander gewesen wäre, was auch an den Schmerzen lag, die einfach nicht verschwanden, aber dieses Gesicht kannte sie. Es gehörte einer Person, die sie in keiner besonders guten Erinnerung behalten hatte. Kurz vor dem Abtauchen in das Dunkel der Bewusstlosigkeit hatte sie es schon einmal gesehen. Sie erinnerte sich deutlich an den katzenhaften Ausdruck, und diese Person hatte auch etwas zu ihr gesagt.
Zumindest ihren Namen, an den Shao sich leider nicht erinnern konnte. Er hatte fremd geklungen.
Der Mund lächelte, was Shao nicht eben froher machte. Sie mochte das Lächeln nicht. Es war nicht freundlich, sondern siegessicher und auch hintergründig.
Das Lächeln einer Feindin.
Allmählich fand Shao ihre Identität wieder zurück. Sie konnte nachdenken, Schlussfolgerungen ziehen, und sie wusste, dass sie sich in der Hand einer Feindin befand.
Shimada. Zuerst dachte Shao nur an den Namen. Wenig später sprach sie ihn flüsternd aus, und sie sah auch, wie die Frau nickte.
»Ja, du hast recht. Shimada – um ihn geht es. Einzig und allein um ihn, der nicht mehr lebt. Aber wir leben, Shao. Ich bin Ornella, seine Rächerin. Und ich bin nicht allein. Mir gehorchen viele Frauen, gute Kämpferinnen, die schon immer auf Shimadas Seite gestanden haben. Zu seinen Lebzeiten haben wir uns ihm zugewandt. Wir wollten ihm den Weg ebnen, wir haben uns für ihn auf der Welt umgehört, und wir erfuhren auch von seinem Tod. Es war Zufall, dass wir uns in London befanden. Als er starb, bekamen wir seinen fernen Schmerz so grausam mit. Aber wir haben uns verpflichtet, ihn zu rächen, und wieder wollte es das Schicksal, dass seine Mörder aus dieser Stadt kamen. Oder der eine oder andere.«
»Ich habe damit nichts zu tun«, sagte Shao leise.
»Das weiß ich.« Ornella grinste gemein. »Du hast nie etwas mit irgendwelchen Dingen zu tun. Du bist so harmlos – seit neuestem. Aber es gab eine Zeit, wo du der Sonnengöttin Amaterasu sehr nahe gestanden hast. Was sich in ihrem Reich durch Shimadas Tod verändern wird, kann ich dir nicht sagen. Es wird etwas geschehen. Auch dagegen wollen wir vorbeugen. Amaterasu soll keine Macht mehr bekommen, denn sie war schließlich die Feindin des großen Shimada. Dementsprechend müssen wir handeln und auch dich ausschalten. Yakup und seine Freundin sind gestorben. Deine Freunde werden diesen Weg ebenfalls gehen, das garantiere ich dir. So soll Shimada nicht grundlos umgekommen sein.«
Shao dachte über die Worte nach. Sie musste sich das Gesagte erst einmal durch den Kopf gehen lassen. Nachvollziehen konnte sie Ornellas Logik nicht. Fest stand nur, dass sie diejenige war, die in der Falle saß und hingerichtet werden sollte.
Ornella hielt ein Schwert fest. Die Klinge wirkte auf Shao wie ein stumpfer Spiegel. Überhaupt war sie von Spiegeln umgeben, in denen sie sich sah, wenn sie mühsam den Kopf drehte und sich umschaute. Die Spiegel reichten bis zum Boden, so konnte sie jedes Detail erkennen. Vom Kopf bis zu den Zehen.
Und sie sah diese andere Welt, in der sie sich befand. Orientalisch angehaucht mit einem mystischen Touch versehen. Nichts für die Geisterbahn im Prinzip, denn der Schrecken war hier nicht offenkundig, bis auf einige Ausnahmen. Sie hingen mit den Personen zusammen, die Shao unbeweglich
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