0988 - Das Labyrinth von Eden
Vielleicht hat sie späten Appetit bekommen und ist in die Schlossküche.«
»Da war ich schon. William war unten, er gab mir den Tipp, im Garten nachzusehen. Er habe gestern im Garten schon spät noch Geräusche gehört, die er nicht zuordnen konnte.«
»Was sollte Carrie bei Dunkelheit im Garten?«
»Das weiß ich nicht. - Ich möchte nur nicht allein raus. Kommst du mit?«
»Natürlich.«
Unterwegs erhielten sie Unterstützung. William wollte sich auf die Räume konzentrieren, während Zamorra und Nicole die Außenanlagen absuchten.
Eine Stunde später stand jedoch fest: An keinem der Plätze, die sie überprüften, gab es auch nur die kleinste Spur von Carrie.
Das Regenbogenmädchen war wie vom Erdboden verschluckt!
»Das kann sie uns doch nicht antun«, flüsterte Nicole.
»Falls sie wirklich weg ist«, streute Zamorra noch Salz in die offene Wunde, »gehe ich nicht davon aus, dass sie es aus freien Stücken getan hat.«
»Sondern?«
»Dass sie - erinnere dich, welche Befürchtung sie selbst äußerte - geholt wurde… von wem oder was auch immer.«
***
Im einen Moment war sie noch in ihrer vertrauten Umgebung auf Château Montagne, im nächsten… Es war wie ein Filmriss.
Düsternis und Kälte stürzten auf Carrie ein.
Sie fand sich am Boden kauernd wieder. An einem Ort, der Verdorbenheit atmete, Terror und Verdammnis.
Selbst das Atemholen fiel schwer, weil sich unsichtbare Ketten um die Brust zu spannen schienen. Der Mangel an Licht stürzte Carrie in tiefe Depression. Reflexartig versuchte sie, den alten - den richtigen ! - Zustand wiederherzustellen, indem sie sich zurück ins Schloss wünschte.
Aber etwas hielt sie fest. Etwas, das stärker war als ihr Wünschen. Stärker als ihr Wille.
Sie zitterte nicht nur vor Kälte. Der Ort, an dem sie war, glich einer Höhle, in die gerade so viel Licht sickerte, dass sie die unablässige Bewegung an den Wänden, auf dem Boden und selbst an der Decke, die sich hoch über ihr wölbte, wahrnahm. Dort woben Schatten beklemmende Muster. Schatten, die manchmal wie Gestalten anmuteten, die sich an den Fels schmiegten und sich darin gefielen, seine Farbe und seine Struktur nachzuahmen. Wispernde Schatten, die bei genauem Hinhören unablässig Carries Namen zu murmeln schienen.
Carrie verkrampfte. Hitze- und Kältewellen wechselten sich darin ab, durch ihren Körper zu jagen. Die Farben ihrer Haut waren verblasst, als würde die Düsternis sie übermalen, ersticken, und Carrie so die Möglichkeit rauben, ihre Gabe zur Entfaltung zu bringen.
Was war das für ein schauriger Ort?
Plötzlich klangen Schritte auf. Die Richtung war nicht zu bestimmen.
Carrie blickte mal hierhin, mal dorthin.
Aber den Schrittgeräuschen folgte nichts Greifbares.
»Wer ist da?«, stieß sie hervor. »Wer schleicht da um mich herum? Bitte. Zeig dich mir.«
»Ich staune.«
Plötzlich stand er vor ihr.
Ein Mann, den Carrie nie zuvor gesehen hatte.
Aber die Stimme - die Stimme erkannte sie sofort: Es war dieselbe, die sie in ihren Träumen heimgesucht hatte!
Da war sie ihr so vertraut erschienen.
Doch das Gesicht sagte ihr nichts.
Außer dass es freundlich aussah.
Verständnisvoll und gütig.
Aber dazu passten die Worte des Unbekannten nicht.
»Ich staune, was für ein hübsches Ding du bist. Wie hast du den Weg zu mir gefunden?«
Carrie hatte das Gefühl, erst dicke Spinnweben von ihren Stimmbändern wischen zu müssen, bevor sie antworten konnte.
»Ich bin nicht freiwillig gekommen! Ich wurde… gezwungen!«
»Gezwungen?« Der Fremde lachte ohne einen Anflug echter Heiterkeit. »Wer sollte so etwas tun? Das wäre doch böse.«
Ein undeutbares Lächeln legte sich um seine Mundwinkel.
»Mein Name ist übrigens Nikolaus. Und wie heißt du?«
12.
Jeden Tag fuhren die Saleh-Brüder zu der Stelle, wo sie ihre Söhne in die Obhut der Zauberin übergeben hatten. In der sandigen Ödnis stach die Markierung aus übereinander geschichteten Steinen schon von fern ins Auge, aber nur die Salehs kannten das Geheimnis, das damit verbunden war.
Wie an all den Tagen davor stiegen sie aus ihrem Jeep und beteten sie in einigem Abstand zu dem Mahnmal, dass ihre Kinder gesund und von der Last falscher Jahre befreit zu ihnen zurückkehren mochten.
Danach untersuchten sie das Umfeld der Markierung. Jedes Mal, wenn sie gingen, beseitigten sie akribisch die von ihnen hinterlassenen Fußspuren. Und jedes Mal, wenn sie kamen, suchten sie nach Abdrücken, die sich von der Markierung weg
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