0994 - Unheil über Shortgate
starrte sie Lady Sarah aus großen Augen an. »Ich bin verrückt«, flüsterte sie dann, als sie die Hand wieder sinken ließ. »Ich muß verrückt gewesen sein, Ihnen das zu sagen.«
»Nein, Ellen, das sind Sie nicht. Sie sind nur froh gewesen, endlich einmal mit jemandem darüber sprechen zu können.«
»Meinen Sie?«
»Ja. Ist das also das Geheimnis von Shortgate - und möglicherweise auch das des Altenhotels?«
»Ich - ich sage nichts mehr!« keuchte Ellen. »Nein, ich will darüber nicht mehr reden.«
Sarah lächelte ihr beruhigend zu. »Ich kann Ihnen versichern, daß es unter uns bleibt.«
»Wenn auch, aber daran glaube ich nicht.« Sie brachte die Worte schnell hervor und war kaum zu verstehen. »Nein, daran kann ich nicht glauben. Es gibt einfach nichts, was unter uns Menschen bleiben kann. Die andere Seite erfährt alles, einfach alles. Und deshalb werde ich mich hüten, auch nur ein Wort zu sagen.«
»Das sollten Sie aber, Ellen.«
»Ha, was reden Sie? Denken Sie, daß ich jetzt schon sterben will? Alle halten hier den Mund - alle! Ich weiß auch nicht, welcher Dämon mich geritten hat, daß ich so offen zu Ihnen war.«
»Weil einfach die Zeit gekommen ist, um zu reden. Aber lassen wir das allgemeine Thema ruhen. Sie haben davon gesprochen, daß mein Freund Albert womöglich sterben wird.«
»Ich kann mich nicht erinnern.« Ellen drehte sich von Sarah weg, ging aber nicht, sondern blieb noch stehen. Sie wirkte stark verunsichert.
»Ich dafür um so besser.«
»Und was soll das?« fragte Ellen aggressiv. »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«
»Ich möchte nicht allein sein in dieser Nacht und bei meinem Spaziergang.«
Ellen bekam vor Staunen den Mund nicht zu. »Das verstehe ich nicht«, sagte sie nach einer Weile.
»Es ist ganz einfach. Ich schlage Ihnen vor, Ellen, daß Sie mich begleiten, falls es Ihre Zeit zuläßt.«
Darauf ging die Frau nicht ein. »Wo wollen Sie denn jetzt, um diese Zeit, hingehen?«
»Auf den Friedhof«, erklärte Sarah mit leiser Stimme.
Ellen sagte nichts. Sie war nur geschockt und machte den Eindruck, als wollte sie im nächsten Moment fluchtartig das Haus verlassen.
Sarah ließ ihr Zeit. Nach einer Weile fragte sie: »Sind Sie einverstanden?«
Ellen schüttelte hastig den Kopf. »Ich bin doch nicht lebensmüde oder wahnsinnig. Nein, nein, das kann niemand von mir verlangen, auch Sie nicht. Schon tagsüber traue ich mich nicht auf den Friedhof. In der Nacht erst recht nicht. Tut mir leid, wenn ich Sie enttäuschen muß. Sehen Sie zu, daß Sie eine andere Dumme finden, ich bin nicht lebensmüde.«
»Das weiß ich, und ich bin es auch nicht. Ich frage mich nur, was uns auf einem nächtlichen Friedhof passieren kann. Nichts, denn die Toten ruhen.«
»Wenn sie es tun«, erwiderte Ellen sofort, »Ich habe Ihnen ja vorhin etwas gesagt und dabei gedacht, daß es Sie eigentlich hätte vernünftig werden lassen müssen.«
»Da möchte ich noch einmal nachhaken, Ellen.«
»Lieber nicht!« sagte sie schnell.
»Moment noch. Sie meinen also, daß auf diesem Friedhof nicht alles tot ist, was tot sein müßte.«
Ellen hob nur die Schultern. Ansonsten kaute sie so hart auf ihrer Unterlippe, daß Sarah befürchtete, bald Blut zu sehen. Aber Ellen ließ es sein und flüsterte: »Es gibt bei uns hier in Shortgate Leute, die dieser Meinung sind.«
»Dann müssen sie auch mehr wissen und möglicherweise etwas gesehen haben.«
»Ist alles möglich.«
»Was haben die denn auf dem Friedhof gesehen.«
»Gestalten«, flüsterte Ellen, »und nicht nur dort, sondern auch außerhalb des Friedhofs. Gestalten, die nicht mehr hätten leben dürfen. Begreifen Sie das doch.«
»Lebende Tote - Zombies also.«
»Ja, wenn Sie so wollen.« Ellen wandte sich Lady Sarah direkt zu. »Tun Sie sich den Gefallen und unterlassen Sie alles, was Sie später bereuen werden. Wirklich, es ist besser so, denn die andere Seite ist die stärker, viel stärker.«
Sarah nickte nur, war aber mit ihren Gedanken woanders: »Und die wird möglicherweise von dieser Gwendolyn Ash geleitet, nicht wahr?«
»Ja, sie - genau sie, sagt man.«
Es kam Sarah schon ungewöhnlich vor, hier oben in diesem halbdüsteren Flur zu stehen und über Tote zu reden, die angeblich lebendig waren. Andererseits war sie erfahren genug, um die Worte der Frau nicht einfach als Hirngespinste abzutun. Hier tat sich etwas. Auch wenn sich manche Dörfler Fremden gegenüber oft sehr zurückhaltend verhielten, war das hier doch
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