0994 - Unheil über Shortgate
bezweifelte, daß sie tatsächlich die Nichte des Wirts war. Die etwas schlampig wirkende Frau hatte ihr eher den Eindruck eines Mädchens für alles gemacht, aber wirklich für alles.
Sie hatte Lady Sarah noch eine Flasche Wasser hingestellt und war dann verschwunden.
Die Horror-Oma trank aus der Flasche und fragte sich dabei, ob sie richtig gehandelt hatte. Sie hockte hier auf der Bettkante, den Blick zum Fenster gerichtet, sinnierte vor sich hin und konnte sogar davon ausgehen, daß es ihrem Schützling, dem sie eigentlich hatte helfen wollen, schlechtging.
Er war krank!
Sie lachte auf, als sie daran dachte. »Nein, Albert«, flüsterte sie, »ich glaube nicht, daß du krank bist. Wenn, dann hat man dich krank gemacht, um dich bewußt vor mir fernzuhalten. Oder man hat etwas anderes mit dir angestellt.« Als sie daran dachte, kriegte sie beinahe einen Schüttelfrost.
Wenn Albert wirklich etwas passierte und die andere Seite ihn aus der Welt schaffte, würde sie sich Vorwürfe machen, nicht schneller und effektiver gehandelt zu haben. Zudem noch auf eigene Faust.
Sie hätte doch Freunde genug, die sich des Falls angenommen hätten und ihr jetzt zur Seite hätten stehen können. Dann hätte sie nicht allein in dieser verdammten Bude gesessen und mit dem Schicksal gehadert.
Es ging ihr auch deshalb gegen den Strich, weil sie sich einfach nicht zu den inaktiven Personen zählte. Trotz ihres Alters war sie eine Frau, bei der es keinen Stillstand gab. Allein die Vorstellung, die nächsten acht oder mehr Stunden hier in diesem miesen Hotelzimmer zu hocken, bereitete ihr Unbehagen.
»Man muß doch etwas tun können…«
Immer wieder flüsterte sie diesen Satz vor sich hin, ohne allerdings eine Lösung zu erhalten, denn sie war einfach nicht in der Lage, über den Tellerrand hinaus zu denken.
Ihr fiel nichts ein, was sie hätte tun können.
Aber in dieser Bude zu hocken und sich irgendwann auf das feuchte Bett zu legen, das wollte sie auch nicht.
»Nein, das will ich nicht, verdammt!« Sie hatte halblaut gesprochen, und die Horror-Oma war eine Frau, die einen Vorsatz sehr schnell in die Tat umsetzte. Da war sie wesentlich flexibler als viele junge Menschen. Deshalb stand sie auf, stellte die Flasche auf den wackligen Tisch neben dem Bett und verließ den Raum.
Den Mantel hatte sie erst gar nicht ausgezogen. Den Koffer ließ sie auch ungeöffnet stehen, und auf dem Gang zuckte sie zusammen, als sie den Schatten einer Gestalt sah, der sich auf dem Boden abzeichnete. Es war ein menschlicher Umriß, und er gehörte zu Ellen, der Nichte. Sie stand vor einer offenen Zimmertür, trank Bier aus der Flasche und schaute Sarah an, als die alte Dame das Zimmer verlassen hatte.
»Ach, Sie sind es.« Sie lachte. »Wer auch sonst? Es wohnt ja sonst keiner hier.«
Sarah Goldwyn blieb stehen. Das Licht hinter Ellen reichte aus, um ihr Gesicht erkennen zu lassen.
Das grauschwarze Haar bildete eine Zottelfrisur. Einige Strähnen hingen ihr bis in die Stirn und wippten bei jeder Bewegung des Kopfes auf und ab.
»Viel haben Sie aber nicht zu tun«, bemerkte Sarah.
»Nein. Nie.«
»Wie kommt es? Ist doch eine nette Gegend hier?«
Ellen verzog das Gesicht. »Nette Gegend?« wiederholte sie spöttisch. »Hier gibt es keine nette Gegend. Was hier in Shortgate ist, das können Sie vergessen.«
»Warum?«
»Es ist alles beschissen hier!«
Sarah wollte das nicht akzeptieren. »Auch wenn es Ihnen nicht gefällt, so muß es doch Gründe geben. Oder sind Sie nicht von hier, daß Sie den Ort nicht mögen.«
»Auch das. Ich komme aus Cornwall. Der Kerl da unten hat mich mitgenommen.«
»Ihr Onkel?« fragte Sarah lächelnd.
»Quatsch - Onkel! Ich bin seine Putzfrau, seine Hure, seine Bedienung, wie auch immer. Als Nichte bezeichnet er mich nur Fremden gegenüber, wie er es bei Ihnen getan hat.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter.«
»Ich meine, Sie sind ein freier Mensch. Sie können Ihre Sachen packen und verschwinden.«
»Von wegen, Mrs. Goldwyn. Aus Shortgate haut niemand ab. Wer einmal hier ist, der bleibt auch hier. Dieses Kaff ist von der Welt vergessen worden. Wir leben, und mehr spielt sich hier nicht ab. Wir wollen keine Fremden, keine Touristen. Der ganze Verkehr soll an uns vorbeirollen.«
»Was auch der Fall ist.«
»Sicher, das stimmt.« Sie trank wieder einen Schluck, während sich Lady Sarah Gedanken machte.
Was man ihr da erzählt hatte, war eigentlich untypisch für einen Ort wie Shortgate. In den meisten
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