0994 - Unheil über Shortgate
hier kam Lady Sarah als unnatürlich still vor. Da traf der Begriff Totenstille durchaus zu, und sie hörte nur ihre schleifenden Schritte.
Nichts knackte, nichts raschelte, und die verschieden hohen Erdhügel umgaben sie wie kleine Pyramiden.
Dennoch ging sie weiter.
Die Hälfte des Friedhofs hatte Sarah bereits hinter sich gelassen, als ihr etwas auffiel. Allmählich erschienen die Umrisse der normalen Gräber, die weiter vorn lagen. Da sah sie auch die unterschiedlich hohen und breiten Kreuze, aber sie kamen ihr hier wie an einem falschen Ort vor.
Dieser Friedhof hatte nichts Christliches mehr. Ihr kam er verflucht vor. Ein Hort für verdammte Seelen und verdammte Körper, die in der Tiefe allmählich vermoderten.
Der kalte Schauer hatte sich auf ihrem Rücken regelrecht festgefressen. Auch ihr Gesicht war davon betroffen, und sie spürte die kalte Nässe in den Augenwinkeln.
Nichts war zu sehen, nichts bewegte sich, und dennoch bin ich nicht falsch, sagte sie sich. Hier bin ich richtig. Hier gibt es etwas. Ich weiß es genau.
Eine Taschenlampe besaß sie nicht. So mußte sich die Horror-Oma auch weiterhin den Weg in der Dunkelheit suchen, vorbei an flachen Gräbern oder kleinen Hügeln, und sie wunderte sich darüber, wie viele Menschen in der letzten Zeit gestorben waren.
Als sie den Blick nach links richtete - es war mehr aus Gewohnheit geschehen -, fiel ihr etwas auf.
Schräg und wie vergessen stand da ein länglicher Gegenstand am Boden. Er sah aus, als hätte er in die Erde geschoben oder gepreßt werden sollen, wobei man es an einem bestimmten Punkt aufgegeben hatte, sich weiterhin damit zu beschäftigen.
Sarah ahnte etwas. Aber sie wollte es genau wissen, schlich näher an den Gegenstand heran, blieb schließlich dicht vor ihm stehen - und verkrampfte sich nicht nur äußerlich.
Ihre Befürchtungen hatten sich bewahrheitet, denn sie starrte direkt auf einen Sarg.
***
Nicht nur im ersten Moment war Sarah Goldwyn geschockt, auch in den folgenden Sekunden schaffte sie es nicht, sich zu bewegen. Sie stand auf dem Fleck wie steif gefroren, sie starrte auf den Sargdeckel, der matt schimmerte, und mußte feststellen, daß dieser Sarg noch sehr neu war und wahrscheinlich erst seit kurzem hier stand.
Sie dachte an die Reifenspuren und konnte sich schon vorstellen, was hier abgelaufen war.
Jemand hatte den Sarg gebracht und hier abgestellt.
War er leer?
Nein, das wollte Sarah auf keinen Fall glauben. Sie erinnerte sich an den Besuch im Altenhotel, und während dieses Gedankens sah sie wieder das kalte Gesicht der Gwendolyn Ash vor ihren Augen und auch deren wissenden Blick.
Ja, sie wußte Bescheid. Und sie wußte sicherlich auch, wer in diesem verdammten Sarg lag.
Lady Sarah holte tief Luft. Klar, auch sie war ein Mensch, der Angst empfinden konnte. Zugleich allerdings war sie sehr neugierig. Wenn sie sich einmal in einen Fall festgebissen hatte, dann ließ sie nicht eher locker, bis sie ihn auch gelöst hatte.
So war es auch hier.
Sarah wollte herausfinden, wer in diesen Sarg gesteckt worden war, und sie hoffte, daß sich ihr Verdacht, über den sie gar nicht intensiver nachdenken wollte, nicht bestätigte.
Langsam ging sie in die Knie. Vom längeren Gehen und von der Kälte waren ihre Beine steif geworden. Die Muskeln schmerzten, aber darauf achtete die Horror-Oma nicht. Sie suchte nach den Verschlüssen, um den Deckel vom Unterteil lösen zu können. Mit den flachen Händen fuhr sie über das glatte Holz hinweg. Die Breitseite des Sargs lag jetzt genau vor ihr, und sie sah auch den matten Glanz der einfachen Hebelverschlüsse, denn hier war nichts fest- oder zugeschraubt worden.
Der dumpfe Laut erschreckte sie.
Und er erschreckte sie um so mehr, als sie eine Sekunde später herausgefunden hatte, woher er aufgeklungen war.
Aus dem Sarg, in dem die Leiche lag…
ENDE des ersten Teils
Weitere Kostenlose Bücher