0998 - Die Welt der verlorenen Kinder
Feldweg einbiegen. An der rechten Seite steht ein Haus. Dort wohnt Brett.«
»Herzlichen Dank, Grace.« Ich reichte ihr die Hand, spürte bald darauf ihre warme Haut, wobei ich mich wunderte, daß Grace meine Hand länger festhielt als gewöhnlich. Ihre Augen hatten sich etwas verengt.
Prüfend schaute sie mich an. »Jetzt habe ich noch eine Frage, John.«
»Ich höre.«
»Sie sind doch nicht allein zum Spaß hierhergekommen - oder?«
»Wie kommen Sie darauf?«
Grace hielt mein Hand noch immer fest. »Niemand fährt nur zum Spaß in dieses Kaff.«
Ich hob die Schultern.
»Nun ja«, sagte sie und ließ meine Hand los. »Wenn Sie es mir nicht sagen wollen, ist das Ihre Sache. Aber es gibt nur wenige Menschen hier, die Ihnen helfen würden. Denken Sie daran, John.« Sie winkte mir zu, drehte sich um und ging.
Ich schaute ihr nach. Ahnte oder wußte Grace Felder etwas? Selbst konnte ich mir darauf keine Antwort geben. Auf dem kurzen Weg zum Rover aber fiel mir wieder die Melodie ein.
»Christmas Day is Coming…«
Ich fragte mich, was da wirklich auf mich zukam…
***
Nach Grace Felders Beschreibung war es für mich leicht gewesen, das Haus zu finden. Ich hatte den Rover direkt an einem Vorgarten stehenlassen, war ausgestiegen und hatte eigentlich vorgehabt, mich irgendwie bemerkbar zu machen, was aber nicht nötig war, denn vom Haus her war ich bereits gesehen worden. Noch bevor ich den winterlichen Vorgarten erreicht hatte, stand Brett McCormick bereits in der offenen Tür, nickte mir zu, hatte die Arme in die Hüften gestemmt und lächelte. Es war kein freudiges, kein filmstarmäßiges Lächeln, es war einfach nur natürlich und kam von Herzen, davon war ich überzeugt, als ich vor ihm stand, ihn anschaute und ihm zunickte.
McCormick war einstämmiger Mann. Breit in den Schultern. Dichtes, graues Haar. Das Gesicht zeigte eine gesunde Farbe, die Augen blickten klar und nicht verschlagen. Irgendwie spiegelte sich das Lächeln darin wider. Er hatte breite, etwas hölzern wirkende Lippen und ein wuchtiges Kinn. Unter der leicht gebogenen Nase wuchs ein schmaler Bartstreifen. So wie ihn konnte man sich auch einen Offizier Ihrer Majestät vorstellen. Er trug eine braune Cordhose und ein dickes, grünes Baumwollhemd. Über das Hemd hatte er sich eine Weste aus glattem Leder gestreift.
Als ich nahe genug an ihn herangetreten war, nahm ich den Geruch eines edlen Tabaks wahr. McCormick schien Pfeifenraucher zu sein.
»Sinclair«, stellte ich mich vor. »John Sinclair.«
»Ja, ich weiß.« Er streckte mir seine Hand entgegen, die ich ergriff. Der Druck war kräftig, eben der eines Mannes, der genau wußte, was er wollte, der mit beiden Beinen im Leben stand. Er ließ meine Hand los, trat zur Seite, damit ich an ihm vorbei konnte, was ich auch tat, und er sagte: »Kompliment, Mr. Sinclair, ich hätte nie gedacht, daß Sie so schnell hier sein würden.«
Ich hob die Schultern, bevor ich die dicke Jacke auszog. »Es ist eben meine Art, nichts auf die lange Bank zu schieben.«
»Das gefällt mir.« Er schlug mir auf die Schulter. »Kommen Sie, wir nehmen einen Schluck.« Er grinste mich an. »Ist ja noch früh genug - oder schon spät. Es kommt ganz darauf an, wie man es sieht.«
»Ich bin mit beidem einverstanden.«
»Das ist ein Wort!«
Er führte mich in ein kombiniertes Wohn-und Arbeitszimmer, wobei letzteres so aussah, als wäre es eher ein Provisorium, denn für den Schreibtisch war neben der Sitzgruppe eigentlich gar kein Platz mehr.
Bücher stapelten sich auf dem Boden. In einer offenen Weltkugel war eine Bar untergebracht worden, daneben stand ein Tisch mit Gläsern.
McCormick prüfte die Whiskyflaschen, während er mit mir sprach.
»Wissen Sie, Mr. Sinclair, seit dem Tod meiner Frau Elisa ist hier einiges anders geworden. Sie hätte nie zugelassen, daß ich den Kram hier in den Wohnraum stelle, aber ich brauche nicht mehr so viele Räume. Nicht mal die obere Etage, die wird beheizt, ohne daß darin jemand wohnt. Im Arbeitszimmer nebenan habe ich noch einen Kamin, aber der ist auch nur mehr Staffage. Nun ja«, er hob die Schultern, »man muß sich eben fügen, denke ich.« Er lachte. »Ja, jetzt habe ich den richtigen Schluck für uns gefunden. Ein besonderer Brand. Sehr alt, sehr gut, sehr geschmeidig, sehr lecker.«
Ich nickte. »Dafür bin ich immer zu haben.«
»Nehmen Sie Platz, Mr. Sinclair.«
Ich setzte mich auf die Couch. Der Sessel war McCormicks Platz. Das war zu sehen, denn er hatte
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