0998 - Die Welt der verlorenen Kinder
Sie auf der Straße, hier in Paxton, irgendwelche Kinder gesehen?«
Jetzt, wo ich direkt darauf angesprochen wurde, fiel es mir auf.
»Sie haben recht, Brett, ich habe keine Kinder gesehen. Nicht auf der Straße, auch nicht hinter irgendwelchen Fenstern.«
McCormick nickte mir zu. »Eben, John. Man hält sie zurück - in Sicherheit. Man will nicht, daß die Kinder ihre schützenden Häuser oder Wohnungen verlassen.«
»Trifft das denn zu?«
McCormick hob die Schultern. »Ich glaube es nicht. Ich denke eher, daß man dem Unheil anders begegnen muß.«
»Wie denn?«
»In der Vergangenheit, nehme ich an.«
»So ist es.«
»Wollen sie mit mir so etwas wie eine Zeitreise veranstalten, Brett?«
»Ha, das wäre schön. Ist aber nicht möglich. Deshalb werden wir uns die Vergangenheit herholen müssen.« Er hob beide Hände. »Ich weiß, das ist nicht leicht zu begreifen, aber ich erzählte Ihnen ja von dem See oder dem Teich, besser gesagt. Dort müssen wir hin, denn die Kinder, die damals getötet wurden, haben meiner Ansicht nach unmittelbar etwas mit den hier lebenden zu tun.«
»Inwiefern?«
»Die Kinder, die hier leben, werden immer schwächer. Sie können die Häuser gar nicht verlassen. Sie wären nicht in der Lage, zu überleben. Das hört sich zwar dramatisch an, aber ich weiß, was ich hier gesagt habe. Ich hatte Zeit genug, gewisse Dinge zu beobachten. Und ich habe mich auch mit der Vergangenheit beschäftigt, weiß allerdings noch zuwenig. Zudem habe ich den Eindruck, daß sich Reverend Felder sperrt. Er hat mir nicht mal Einblick in die Kirchenbücher gestattet. Das finde ich sehr schade. Es hätte uns wirklich einiges gebracht.«
Mein Lächeln fiel breit aus. »Da ich inzwischen seine Tochter kennengelernt habe, denke ich, daß wir es schaffen könnten.«
McCormick reckte mir sein Kinn entgegen. »Woher nehmen Sie nur den Optimismus?«
»Wir waren uns eigentlich sympathisch. Dann hörte ich noch die Kinderstimmen, die das Lied sangen, als wären Geister dabei, um den Weihnachtsbaum herum zu tanzen.«
»Das ist verrückt.«
»Meinen Sie die Stimmen?«
»Alles ist verrückt.«
»Aber nicht der Teich - oder?«
»Nein.«
»Dann möchte ich Sie bitten, Brett, daß wir zu ihm gehen, bevor es hier zu dunkel wird.«
»Ja, das machen wir. Und auch zu kalt. Schon in den letzten Nächten schwamm auf der Oberfläche Eis. Durch den Sonnenschein ist es tagsüber zwar wieder getaut, aber ich könnte mir vorstellen, daß die Oberfläche erneut zufriert.« Er kam auf mich zu und schlug mir auf die Schulter. »Kommen Sie, John, packen wir es…«
***
Wir hatten nicht den Wagen des ehemaligen Kostablers genommen, sondern meinen Rover. Er war größer, wir hatten mehr Platz, und wir waren auch durch Paxton gefahren, hatten den Weihnachtsbaum passiert, in dessen Geäst jetzt die Lichter funkelten, aber sosehr ich auch die Ohren gespitzt hatte und sogar das Fenster heruntergelassen hatte, das Lied hatte ich nicht gehört.
Erst als wir Paxton verlassen hatten, sprach mich Brett McCormick an.
»Sind Sie jetzt enttäuscht?«
»Warum?«
Er hob die Schultern. »Weil Sie die toten Kinder nicht singen gehört haben.«
»Damit habe ich nicht mal gerechnet«, gab ich zu.
»Wirklich nicht?«
»Ich hatte es aber gehofft.«
Er seufzte. »Ich auch. Wenn Sie den kleinen Bach überquert haben, müssen Sie sich rechts halten.«
»Geht in Ordnung.«
Paxton selbst war nicht eben laut gewesen, doch in der stillen Winterlandschaft hatte es so geklungen. Ich sah wieder einige Schneereste, denn es war einfach zu kalt, um ihn tauen zu lassen.
Manche Bäume wirkten auf mich wie riesige Skelette, die ihre dünnen Arme wie hilfesuchend in den Bleihimmel gereckt hatten. Vögel bewegten sich durch die schwer anmutende Luft. Auch ihr Flug wirkte nicht fröhlich, sondern der Umgebung angepaßt.
Wir brauchten nicht lange zu warten, bald ging es rechts ab. Der Weg war schmal, auch kurvig und erinnerte mich an ein großes S, das nicht aufzuhören schien. Der Bewuchs an den beiden Seiten verdichtete sich, und manchmal kratzten die Spitzen der Zweige an der kalten Karosserie des Rovers entlang wie die Fingernägel erstarrter Wesen.
»Nicht gerade eine Autobahn - wie?«
Ich hob die Schultern. »Ich bin schon schlechtere Strecken gefahren.«
McCormick nickte. »Klar, das glaube ich Ihnen. Außerdem ist es nicht mehr weit.« Er deutete gegen die Seitenscheibe. »In den Büschen taucht gleich eine Lücke auf. Da können Sie den
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